Fußball-Regionalliga: Der Krieger

Mitten im Gespräch, Aytac Sulu hat schon eine halbe Stunde lang über seine Zeit als Spieler beim SV Darmstadt 98 und seine neue Aufgabe bei Viktoria Aschaffenburg gesprochen, mitten im Gespräch also schwenkt er auf einmal zur TSG Hoffenheim und spricht von „goldenen Wasserhähnen“, die es dort gegeben habe. Sulu lacht. Er meint es natürlich im übertragenen Sinne. Was er eigentlich zum Ausdruck bringen will, ist: Was er in Hoffenheim vorgefunden hat, ist gar nicht mit dem zu vergleichen, was er jetzt in Aschaffenburg vorfindet. Aber das ist schon in Ordnung. Aytac Sulu macht einfach das Beste daraus.
Das Beste daraus machen: Mag sein, dass das wie eine Plattitüde klingen mag, doch es zieht sich derart konsequent durch Sulus Biographie, dass man meinen könnte, es wäre sein Leitsatz, vielleicht sogar sein Lebensthema.
Zuletzt war er als Assistenztrainer in Hoffenheim tätig, erst beim U-17-Team, dann bei der Regionalliga-Mannschaft. In der ersten Reihe stand er noch nie. Sulu, 39, sitzt in einem Büro auf dem Aschaffenburger Trainingsgelände, an seinen Oberarmen spannt sich das T-Shirt, der linke Unterarm ist tätowiert, der Bart akkurat, nicht mehr so lang, wie er zu seiner Zeit als Bundesligaspieler in Darmstadt manchmal war.
Als Trainer muss Sulu den gegnerischen Stürmern keine Furcht mehr einflößen, er steht jetzt einfach draußen an der Seitenlinie und schaut zu. Wobei: Er schaut nicht einfach zu. Meistens geht er energisch mit. Im Grunde, sagt Sulu, sei er immer noch derselbe wie damals auf dem Platz. „Da gibt es keinen großen Unterschied. Ich stehe nur woanders“, sagt der Coach und erklärt dann, dass auch sein Team so spielen soll, wie er es früher getan hat. Für einen wie ihn ist Fußball in erster Linie Arbeit. So hat er dieses Spiel immer verstanden. Und nun soll seine neue Mannschaft sein Ebenbild werden. „Die talentfreien Merkmale stehen erstmal im Vordergrund: dass du rennen und kämpfen kannst“, sagt Sulu.
Aytac Sulu ist und bleibt also Aytac Sulu. Auch deshalb sitzt er jetzt hier, in diesem Raum auf dem Trainingsgelände am Schönbusch. Hinter ihm hängen zwei Bilder, darauf: Aschaffenburger Spieler, die in Weiß und Blau gekleidet sind und sich in den Armen liegen. Wie oft das in dieser Saison wohl vorkommen wird?
„Bei uns gab es auch mal zwei, drei Tage nacheinander Nudeln mit Tomatensoße.“In der Stadt gibt es große Zweifel, ob die Viktoria der Regionalliga gewachsen ist. Mehr als eine ganze Mannschaft hat den Verein verlassen, und gekommen sind vor allem junge Spieler, die erst noch beweisen müssen, dass sie das Zeug für die Regionalliga haben. Zum Saisonauftakt sahen sich die Zweifler durch ein 0:4 gegen die SpVgg Greuther Fürth II bestätigt. Schon in der vergangenen Saison rettete sich der Klub erst in der Relegation, und jetzt soll der Etat, wie zu hören ist, nur noch die Hälfte betragen. Kann das gutgehen? Oder rennen sie da nicht sehenden Auges in den Abgrund?
Aytac Sulu versteht die Frage nicht. Er gesteht zwar, dass es „etwas ganz Großes“ wäre, wenn die Viktoria den Klassenverbleib schaffen sollte. Aber Zweifel?
„Ich hatte nicht eine Sekunde Bedenken“, versichert Sulu und ist in Gedanken plötzlich wieder an jenem Tag, an dem er zum ersten Mal hier am Gelände war. Die Viktoria habe mehrere Kunst- und Naturrasenplätze, und die Mannschaft spiele in einem Stadion und nicht bloß auf einem Sportplatz wie andere Viertligisten. Klar, auf den Stehrängen wuchere das Unkraut, und den Duschköpfen sehe man mittlerweile auch an, wie viel sie schon mitgemacht haben. Aber war das in Darmstadt nicht auch so?
Wenn er die Duschköpfe und das Unkraut erwähnt, verzieht er nicht das Gesicht. Er rollt auch nicht die Augen, im Gegenteil: Aytac Sulu lächelt. Ihm scheint warm ums Herz zu werden. Wenn Spieler zur Viktoria kommen, obwohl es hier so zugeht, wie es nun mal zugeht, muss das ja heißen, dass sie sich tatsächlich so zerreißen wollen, wie es Sulu früher getan hat.
Und so hat er es auch schon in Kindheitstagen gelernt. Er stammt aus einer Gastarbeiterfamilie, wuchs mit zwei älteren Geschwistern als Sohn eines Hausmeisters und einer Fließbandarbeiterin in Nußloch auf, unweit von Heidelberg. Wenn ein Schulausflug einen Zuschuss der Eltern erforderte, fuhr der kleine Aytac oft nicht mit und kam vorübergehend in der Parallelklasse unter. „Das war für mich das Normalste der Welt, wenn das mal vorkam“, sagt er heute. Er sei eben in bescheidenen Verhältnissen groß geworden: „Wir hatten nicht das Geld, um einmal die Woche zu McDonald's zu gehen. Bei uns gab es auch mal zwei, drei Tage nacheinander Nudeln mit Tomatensoße.“
Vielleicht ist Aytac Sulu auch deshalb so geworden, wie er heute ist. Vielleicht ist das der Grund, warum er nie klagt oder jammert, wenn es schwierig wird, sondern die Ärmel seines T-Shirts hochschiebt und anpackt. Mit dieser Haltung scheint er in Aschaffenburg zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.
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