«Die Teams sind viel enger zusammengerückt»: YB-Trainerin Imke Wübbenhorst sagt, weshalb der Frauenfussball eine neue Stufe erreicht hat


Gian Ehrenzeller / Keystone
Imke Wübbenhorst, die Schweiz steht im EM-Viertelfinal, und wer die Jubelszenen nach dem späten Ausgleich gegen Finnland gesehen hat, kommt zum Schluss: Da ist etwas entstanden zwischen diesem Team und dem Land.
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Imke Wübbenhorst: Ja, ich war bei mehreren Schweizer Spielen im Stadion, und es hat mich sehr beeindruckt, wie das Team unterstützt wird. Man merkt den Spielerinnen an, wie viel das mit ihnen macht. Alle haben Feuer gefangen, es gibt eine Art Wechselwirkung.
Wie würden Sie die umschreiben?
Die Spielerinnen tragen mit der Art, wie sie Fussball spielen, ihren Teil zur Atmosphäre bei. Dieser Einsatz. Diese Leidenschaft. Sie holen die Leute ab. Man merkt ihnen an, dass sie ein höheres Ziel haben, nämlich den Frauenfussball in der Schweiz voranzubringen.
Die Schweiz steht nun erstmals in einem EM-Viertelfinal, wie verorten Sie das?
An der WM 2023 hat die Schweiz die Gruppenphase ja auch schon einmal überstanden. Aber man kann sagen, dass sich der Beginn einer neuen Ära abzeichnet, mit all den jungen Spielerinnen, Iman Beney, Sydney Schertenleib, Leila Wandeler, die schon in jungen Jahren anders gefördert wurden als ihre Vorgängerinnen. Man darf aber auch die Gruppenkonstellation nicht ausser acht lassen . . .
. . . da hatte die Schweiz mit Island und Finnland als Gegnerinnen Glück.
Ja, das ist so, es gibt stärkere Gruppen, jene mit Frankreich, England und den Niederlanden etwa.
Ein Aus in dieser Gruppe wäre eine Enttäuschung gewesen?
Ich finde, ja. Zur Beurteilung der Gruppenphase gehört für mich übrigens schon auch, dass es kein Spiel gab, in dem die Schweizerinnen vollständig überzeugt haben. Und ich muss sagen, dass ich das Gefühl hatte, dass sie vor allem dann gut waren, wenn sie sich mehr zugetraut und mehr Risiko genommen haben.
Die beste Halbzeit war bisher die ganz zu Beginn des Turniers, die erste gegen Norwegen, einverstanden?
Ja, wobei ich in dem Spiel auch das Gefühl hatte, dass der Gegner noch nicht richtig in der Schweiz angekommen war. Da haben die Schweizerinnen ihr System extrem offensiv gespielt, sie sind hoch angelaufen, sind ins Gegenpressing gegangen. Das hat zu diesem Team gepasst, es will laufen, den Ball haben, mutig sein. Es ist am besten, wenn es nach vorne marschieren darf.
Sie hätten sich insgesamt noch mehr Offensivgeist, aktiveren Fussball vom Schweizer Team gewünscht?
Als Zuschauerin mag ich solche Teams, und als Trainerin versuche ich, diese Art Fussball spielen zu lassen: aktiv, nach vorne, Gegenpressing. Gegen Norwegen haben sie das sehr gut umgesetzt.
Welche Schweizer Spielerin ist Ihnen besonders aufgefallen bis jetzt?
Natürlich Géraldine Reuteler, weil sie alles hat, sie kann verteidigen, sie hat diese Dynamik, sie läuft in die Tiefe. Ganz egal, wo sie spielt, sie bringt sich ein. Daneben haben mich auch Spielerinnen überzeugt, die in der Vorbereitung noch eine untergeordnete Rolle gespielt haben, Nadine Riesen, die linke Aussenläuferin, etwa. Auch Leila Wandeler gefällt mir mit ihrer Spielfreude und ihrem Tempo.
Wandeler ist erst 19, Beney und Schertenleib sind noch jünger. Die Zukunft scheint rosig.
Ja, zumal es noch weitere Talente gibt, gerade mit Jahrgang 2007. Wahnsinn, was da alles nachkommt. Und die Erfahrungen, welche die jungen Spielerinnen jetzt sammeln können, sind unbezahlbar. Die WM 2027 kann aus meiner Sicht für die Schweiz ein Riesenturnier werden.
Jetzt wartet im Viertelfinal Spanien, der grosse Favorit. Sie haben vorhin gesagt, Sie würden das Schweizer Team gerne etwas aktiver sehen, aber das kann gegen Spanien böse enden.
Es kann auch böse enden, wenn man sich gegen Spanien einfach hinten reinstellt. Ich glaube, man muss beides machen: Mal tief stehen. Das hat den Spanierinnen gegen Belgien nicht behagt. Und mal hoch pressen, weil sie das ja gar nicht kennen: hoch gepresst zu werden. Wenn Spanien eine Schwachstelle hat, dann ist das die Verteidigung.
Wie würde Imke Wübbenhorst die Aufgabe gegen Spanien angehen, wenn sie Nationaltrainerin wäre?
Zuerst etwas tiefer stehen und auf Konterchancen lauern. Später auch einmal fünf, zehn Minuten höher angreifen und pressen, um den Spanierinnen eine andere Aufgabe zu geben.
Captain Lia Wälti hat gemeint, die Schweiz gewinne eins von hundert Spielen gegen Spanien.
Mit dem Publikum im Rücken verdoppelt sich die Siegchance, wir kommen also auf zwei Prozent.
Spanien hat bisher die meisten Tore erzielt, aber welches Team hat Sie am meisten beeindruckt?
Neben Spanien vor allem die Französinnen. Was die beim 2:1 gegen den Titelverteidiger England gezeigt haben, das war Weltklasse.
Bei den Französinnen sind grosse Namen wie Wendie Renard oder Eugénie Le Sommer nicht dabei.
Laurent Bonadei, der französische Nationaltrainer, hat ja im Vorfeld des Turniers gesagt, man könne nicht immer das Gleiche machen und bessere Ergebnisse erwarten. Er hat einen Schnitt gewagt, und das zahlt sich aus. Die Französinnen treten als Team auf, und sie haben eine extreme Breite im Kader.
Imke Wübbenhorst trainiert seit 2022 die Young Boys. Zuletzt führte die Deutsche den Klub zum Meistertitel. Die 36-Jährige spielte einst in der Bundesliga und für Junioren-Nationalteams. Während der EM analysiert und kommentiert sie für SRF. (dow.)
Dann sehen Sie Frankreich sogar vor Spanien?
Das wird man sehen. Frankreich hat halt ein sehr junges Team, der Trainer Bonadei hat ja auch gesagt, dass er bereits an die WM 2027 denkt.
Wie beurteilen Sie die Auftritte anderer Favoriten wie England und Deutschland?
Von den Engländerinnen bin ich etwas enttäuscht, gegen Frankreich waren sie lange unterlegen, und sie haben überhaupt nicht reagieren können. Die Deutschen spielen bis jetzt eher statisch, und sie sind anfällig. Sie haben individuelle Qualität, klar, aber als Kollektiv besteht noch Steigerungspotenzial. Gleichzeitig sollte man die Deutschen wegen ihrer Mentalität und Disziplin nie unterschätzen.
Viele Leute schauen gerade zum ersten Mal Frauenfussball. Welche Spielerin legen Sie denen ans Herz?
Alexis Putellas, die Spanierin. Die Französinnen Sarkina Karchaoui und Sandy Baltimore sind toll. Mir gefällt auch die Engländerin Lauren James, das ist eine super Spielerin, sie steht für eine neue Generation, für den Frauenfussball, auf den wir uns künftig freuen können.
An Turnieren zeigen sich stets auch Trends – was haben Sie da bisher beobachtet?
Die Teams sind viel enger zusammengerückt, auch kleinere Länder haben mittlerweile viel Qualität und Spielerinnen im Ausland, Finnland etwa oder Belgien. Keine Begegnung ist heute noch ein Selbstläufer.
Hat das auch mit der verbesserten Ausbildungsarbeit zu tun?
Ja, man sieht, dass die jungen Spielerinnen heute gute Möglichkeiten haben und auch besser trainiert werden.
Die bisherigen Spiele zeigen auch: Da ist gerade viel im Gange in Sachen Physis und Intensität.
Da haben wir tatsächlich eine neue Stufe erreicht. Da passiert ja auch bei den Männern noch viel, bei den Frauen verläuft die Entwicklung einfach rasanter. In vielen Klubs wurden die Frauenteams integriert, sie können jetzt mit ganz anderen Methoden arbeiten, gerade im physischen Bereich. Haben etwa Zugang zu Datenanalyse, die sie früher nicht hatten. So etwas zahlt sich aus.
Gleichzeitig hat der Frauenfussball den Ruf, unschuldiger zu sein als jener der Männer, fairer. Doch an dieser EM war Zeitspiel zu beobachten, gab es Nickligkeiten zu sehen, und von den Rängen hallten Pfiffe. Geht da gerade etwas verloren?
Wenn mehr auf dem Spiel steht, dann wird auch mehr gemacht, um zu gewinnen. Und je enger alles wird, desto eher setzen sich jene durch, die abgezockt und clever sind. Zeitspiel geht mir echt auf den Pinsel. Spielerinnen, die liegen bleiben, auch. Die Pfiffe der Fans mag ich nicht.
Diese Wachstumsschmerzen lassen sich aber kaum verhindern, oder?
Warum denn nicht? Die Professionalisierung hat nicht nur positive Effekte. Der Fussball bekommt ein ganz anderes Gewicht im Leben der Spielerinnen. Und damit jede Niederlage, jeder Ballverlust. Auch die gestiegene Aufmerksamkeit verändert etwas. Der Frauenfussball war bisher sehr geerdet. Wir müssen schauen, dass das so bleibt.
Wie?
Indem wir schauen, dass es im Leben der Spielerinnen nicht nur den Fussball gibt. Dass sie sich ausbilden, mit anderem beschäftigen als nur dem Sport. Dazu gehört, ihnen nicht alles abzunehmen. Damit sie sich auch einmal selbst um etwas kümmern müssen. Das erhöht die Resilienz.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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