Nach dem Skandal: Marco Goecke versucht einen Neubeginn am Rhein

Nach seiner Hundekot-Attacke auf eine Kritikerin bekommt der deutsche Choreograf in Basel eine zweite Chance. Mit seinem Ballettabend «Der Liebhaber» nach dem Roman von Marguerite Duras glückt ihm ein spektakuläres Comeback.
Martina Wohlthat, Basel
Ein Männerhut auf dem Kopf einer jungen Frau, eine schwarze Oldtimer-Limousine, die weite Flusslandschaft des Mekong in dunstigem Licht, dazu die Geräusche fremder Stimmen. An den zentralen Punkten seines Balletts «Der Liebhaber» setzt der Choreograf Marco Goecke klare Zeichen. Daneben gibt es vieldeutige Assoziationsräume, reduzierte Bilder, die einen in ihren Bann ziehen. Die Mischung aus bildstarker Poesie und Minimalismus macht diesen Abend spannend.
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Seit dieser Spielzeit ist Marco Goecke künstlerischer Leiter und Chefchoreograf des Ballett Basel. Mit dem Tanzstück «Der Liebhaber» nach dem Roman von Marguerite Duras als Schweizer Erstaufführung gibt er seinen vielbeachteten Einstand. Es ist ein Neubeginn unter besonderen Vorzeichen.
Eine Art RettungsleineDer deutsche Choreograf wurde auf unrühmliche Art weit über die Grenzen der Tanzwelt hinaus bekannt, als er im Februar 2023 im Affekt eine Kritikerin der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» mit den Exkrementen seines Dackels beschmierte. Der Fall schlug hohe Wellen. Er löste eine Debatte über das Verhältnis von Theater und Kritik aus und wurde selbst zum Gegenstand eines Theaterstücks. Viele empfanden den Angriff schlicht als beispiellos und als groben Übergriff. Einige Theater strichen daraufhin Stücke Goeckes von ihren Spielplänen. Er verlor seinen Posten als Ballettdirektor in Hannover und stand vor dem Scherbenhaufen seiner internationalen Karriere.
Der Basler Intendant Benedikt von Peter will Marco Goecke nun eine zweite Chance geben. Zugleich hat er ihm ein Leitungsteam mit langjährigen Begleitern an die Seite gestellt. Das erscheint sinnvoll, da Goecke sein Ausrasten im Nachhinein mit einem Burnout und hoher Arbeitsbelastung erklärt hatte. Goecke will sich in nächster Zeit auf die Arbeit in Basel konzentrieren und weniger Stücke auswärts erarbeiten. Seit seinen Anfängen hat er während fünfundzwanzig Jahren mehr als hundert Werke geschaffen, darunter zahlreiche Auftragsarbeiten für namhafte Kompanien.
Dass der Choreograf trotz der Schwere des Vorfalls und der daran anschliessenden moralischen Fragen nun erstaunlich rasch rehabilitiert wird, hängt denn auch mit den künstlerischen Qualitäten zusammen, die Goecke zu einem der herausragenden Choreografen der Gegenwart gemacht haben. Für das Theater Basel ist seine Berufung ein kluger Schachzug: Es wirft dem renommierten, aber im Ruf beschädigten Künstler eine Art Rettungsleine zu; gleichzeitig kehrt nach zwei eher glücklosen Jahren mit experimentellem Tanztheater unter Adolphe Binder hochkarätige Ballettkunst an das Haus zurück.
«Metapher für das Leben»Das Ballett «Der Liebhaber», das 2021, also vor dem Hundekot-Eklat, an Goeckes früherem Wirkungsort Hannover uraufgeführt wurde, zeigt diese Qualitäten exemplarisch. Es ist ein stringentes Werk, das die Handlung und den Tiefgang des zugrunde liegenden Romans von Marguerite Duras detailgetreu in ausdrucksstarke Bilder übersetzt. Ein Blickfang im sonst leeren Bühnenbild von Michaela Springer ist die wellenartige Bühnenschräge, über die die Akteure rutschen und rennen. Das Wasser ist für das Stück ein zentrales Motiv.
Bei Duras ist es der Mekong, bei Goecke nun auch der Basler Rhein: «So ein Fluss ist eine Metapher für das Leben, für Bewegung und Poesie», sagte Goecke bei einer Einführungsveranstaltung vor der Premiere. Der Satz wirkt wie ein persönliches Fazit und erhält auf der Bühne eine eigene Dringlichkeit.
Wir befinden uns im Vietnam der 1930er Jahre – als die Autorin Marguerite Duras dort aufwuchs, hiess es noch Französisch-Indochina. Das Ballett verbindet Duras’ Geschichte über familiäre Bindungen, Gewalt, Liebe, Erotik und das exotische Ambiente in der französischen Kolonie mit der latenten Bedrohung einer dysfunktionalen Familie. Die depressive Mutter (Ana Paula Camargo) vernachlässigt ihre Tochter und ihre zwei Söhne. Der ältere Bruder ist gewalttätig, seine Dominanz versetzt die Familie in Angst und Schrecken. Der jüngere Bruder geht daran zugrunde.
Das Stück beginnt nahezu abstrakt. Die Tänzerinnen treten in schwarzen Kostümen, die Tänzer in schwarzen Hosen mit nacktem Oberkörper auf. Untermalt von traditionellen vietnamesischen Gesängen, verwandeln sich die Tanzenden im Prolog in die Wellen des Flusses. Bereits hier sieht man das für Goeckes Tanzsprache typische Spiel der Arme und Oberkörper. Die zitternden und flatternden Bewegungen wechseln mit Sprüngen mit markant angewinkelten Armen und virtuosen Drehungen. Hinzu kommen stumme Schreie aus geöffneten Mündern, später werden kurze Passagen aus Duras’ Roman gesprochen.
Im Zentrum steht die Tochter der Familie. Sandra Bourdais tanzt die Rolle ganz in sich versunken, dann wieder mit eleganter, fliessender Silhouette. Ihr Kennzeichen ist der lässige Männerhut, der ihre Unabhängigkeit unterstreicht. Auf der Fähre begegnet sie einem Chinesen aus reichem Hause. Das Paar geht aufeinander zu, läuft nebeneinander in kreisförmiger Bewegung. Beeindruckend, wie durch die Synchronisierung der Schritte und Wege im Raum die Verbindung immer enger wird.
Die Duette haben eine dichte Atmosphäre. Dem in einer Umarmung verschmelzenden Paar (Sandra Bourdais mit Maurus Gauthier in der Rolle des Liebhabers) wachsen Flügel zum langsamen Satz aus Ravels Klavierkonzert G-Dur. Ausserdem erklingen zum Tanz sehr stimmig Debussys sinfonische Skizzen «La Mer». Mit schlängelnden Armbewegungen greifen die Liebenden nacheinander. Ihre Beziehung scheitert an den gesellschaftlichen Konventionen.
Spektakulärer NeubeginnDer Vater des Liebhabers hat für ihn eine chinesische Frau ausgesucht. Das französische Mädchen wird von der Familie wie ein Gepäckstück in einem Container mit der Aufschrift «Saigon – Paris» von Indochina nach Frankreich verfrachtet. Die Überfahrt ist ein grauer, melancholischer Albtraum zu Chopins Walzer in h-Moll. In Paris endet das Stück zu den gesprochenen Schlusszeilen des Romans. Sie erzählen von einem Telefonanruf und dem späten Bekenntnis des Liebhabers. In der letzten Szene treffen die junge Frau und die gealterte Schriftstellerin (Heidi Lauterbach) aufeinander.
Er sei immer ein grosser Duras-Fan gewesen, sagt Goecke: «Der Wunsch eint uns alle, dass die Liebe bis ins hohe Alter dauert. Im Buch überlebt die Liebe alles, auch die Zeit.» Getragen wird der Abend von der neu formierten Basler Ballettkompanie, die Goeckes teilweise sehr komplexe Bewegungsabläufe in rasantem Tempo umsetzt. Jede und jeder vollbringt hier solistische Glanzleistungen – ein spektakulärer tänzerischer Neubeginn, der das Premierenpublikum beim Schlussapplaus förmlich von den Sitzen reisst. Die Zeit muss nun zeigen, ob Marco Goecke in Basel in ein ruhigeres Fahrwasser findet und als Kapitän seiner Kompanie die ihm gebotene zweite Chance zu nutzen weiss.
nzz.ch