INTERVIEW - Anna Netrebko kommt ans Zürcher Opernhaus. «Man darf Künstler nicht als Sündenböcke benutzen», rechtfertigt sich der Intendant

Für die zweite Produktion seiner Intendanz engagiert Matthias Schulz die russische Sängerin Anna Netrebko. Im Gespräch plädiert er für eine differenzierte Betrachtung ihrer politischen Positionen, die unter anderem von der Ukraine scharf kritisiert werden.
Herr Schulz, Sie haben Anna Netrebko für eine Hauptrolle in Verdis «Macht des Schicksals» engagiert. Auftritte der russischen Sängerin, die auch einen österreichischen Pass besitzt, sind seit dem Angriff auf die Ukraine ein Politikum. Vielerorts kam es zu Protestkundgebungen und Absagen. Spielen Sie gern mit dem Feuer – oder was war der Beweggrund, Netrebko nach Zürich zurückzuholen?
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Es ist zuallererst, das möchte ich betonen, eine künstlerische Entscheidung. Anna Netrebko ist nach wie vor eine der besten Sängerinnen unserer Zeit, und konkret ist sie auch die führende Interpretin der Leonora in Verdis «La forza del destino». Wenn diese künstlerische Qualität nicht so über jeden Zweifel erhaben wäre, würde sich die Frage, Anna Netrebko einzuladen, gar nicht stellen.
Soll das heissen: Man kommt nicht um sie herum?
Ich habe Netrebkos Entwicklung als Künstlerin fast seit ihren Anfängen im Westen verfolgt, schon seit meinen eigenen beruflichen Anfängen bei den Salzburger Festspielen Ende der 1990er Jahre. Ich war seinerzeit sogar dabei, als sie in Salzburg für die Donna Anna in Mozarts «Don Giovanni» vorgesungen hat – das war die Rolle, mit der sie 2002 international durchzustarten begann, noch vor ihrem sensationellen Durchbruch mit der Traviata 2005. Aus dieser langen persönlichen Erfahrung heraus darf ich sagen: Anna Netrebko ist eine Ausnahmesängerin.
Die künstlerische Qualität wird von der Fachkritik kaum bestritten, sie ist aber nur die eine Seite. Seit Februar 2022 ist ein Engagement Netrebkos immer auch ein politisches Statement. Denn ihre Gegner unterstellen ihr eine Nähe zu Putin und seiner kriegstreiberischen Politik. Antworten Sie denen: Ich nehme das in Kauf, mich interessiert in erster Linie die überragende Sängerin Netrebko?
Nein, keineswegs. Aber man muss sich die Positionen Netrebkos, um die sich die Diskussion nun schon seit über drei Jahren dreht, sehr genau anschauen. Das muss man auch und gerade von denjenigen verlangen, die Netrebko wegen ihrer angeblichen politischen Haltung verdammen. Es sind zu viele unbewiesene Behauptungen, Gerüchte und auch böswillige Unterstellungen im Spiel.
Sie meinen: Netrebko wird zur Projektionsfigur für eine undifferenzierte antirussische Haltung gemacht?
Für mich ist entscheidend, dass man Künstler nicht als Sündenböcke benutzt, weil man an die eigentlichen Kriegstreiber nicht herankommt. Künstler vorsätzlich in der Weise zu politisieren oder zu ideologisieren, das halte ich für hochproblematisch. Dann sehe ich meine Aufgabe darin, im Zweifel die Künstler zu schützen.
Auch wenn Sie damit Gefahr laufen, Applaus aus der falschen Ecke zu bekommen?
Ich möchte klarstellen, dass ich selbst absolut proukrainisch eingestellt bin. Dasselbe gilt für das Opernhaus Zürich. Daran hat schon mein Vorgänger Andreas Homoki nie einen Zweifel gelassen. Ich habe während meiner Zeit als Intendant der Berliner Staatsoper Unter den Linden Benefizveranstaltungen gemacht, darunter eine sehr grosse gemeinsam mit der EZB und der Deutschen Bundesbank. Dabei haben wir viel Geld zur Unterstützung der Ukraine gesammelt.
War Anna Netrebko dies bekannt, als sie im September 2023, begleitet von Protesten, an der Lindenoper aufgetreten ist?
Ja. Ich habe ihr in vielen persönlichen Gesprächen meine Haltung und die des Hauses deutlich gemacht. Und sie weiss auch, dass die Oper Zürich klar aufseiten der Ukraine steht. Dass Anna Netrebko darin keinen Hinderungsgrund sieht und an solchen Häusern auftritt, verrät ja vielleicht auch etwas über ihre Haltung.
Machen wir es konkret: Da die Sängerin zurzeit keine Interviews gibt, muss man sich an die Äusserungen halten, die sie in der Anfangszeit des Krieges unter wachsendem öffentlichem Druck vor allem via Social Media veröffentlicht hat. Zentral erscheint das Statement vom 30. März 2022, das weiterhin auf Facebook zu finden ist. Darin sagt Netrebko: «Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich, und meine Gedanken sind bei den Opfern dieses Krieges und ihren Familien. Ich bin weder Mitglied einer politischen Partei noch mit irgendeinem Führer Russlands verbunden.» Reicht Ihnen das?
Für mich ist das ein sehr klares Statement. Und wenn man es jetzt, im Nachhinein, noch mal im historischen Kontext liest, wirkt es sogar noch stärker und mutiger. Sie spricht unumwunden von «Krieg», und das zu einer Zeit, als man das Wort in Russland bereits nicht mehr in den Mund nehmen durfte. Ich habe kurz danach auch persönlich mit ihr gesprochen. Sie war zu der Zeit in Wien, und ich war, glaube ich, einer der wenigen, die mit ihr telefonieren konnten. Es war ein langes und intensives Gespräch.
Und Netrebkos Haltung erschien Ihnen glaubwürdig?
Ja. Ich habe das Gespräch als differenziert und authentisch wahrgenommen. So wie ich sie kennengelernt habe, ist Anna Netrebko keine Person, die sich gross verstellt.
In Russland hat man Netrebkos Verlautbarungen anscheinend genau verfolgt. Nach dem Statement vom März 2022 bezichtigt sie der Vorsitzende der Staatsduma des Verrats, und sie verliert geplante Engagements in Russland. Nicht sie bricht mit ihrer Heimat, wie es viele im Westen verlangen, die Heimat bricht mit ihr. Spielt diese passive Form der Exilierung eine Rolle in Ihren Überlegungen?
Man muss sich bewusst machen, was es bedeutet, so ein Statement abzugeben – in der Lage, in der sie war. Sie hat viele Bekannte, Freunde, auch Verwandte in Russland. Da muss man sich Gedanken machen, ob man jemanden gefährden könnte. Sie selbst ist seit 2022 nicht mehr in Russland aufgetreten. Sie hat sich klar für westliche Bühnen entschieden und bereits durch ihr Handeln gezeigt, dass sie nicht von beiden Seiten profitieren möchte.
So, wie es der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis mit seinem Spagat zwischen Ost und West versucht?
Zum Beispiel. Oder wenn Netrebko, rein hypothetisch, plötzlich bei den «Weissen Nächten» in St. Petersburg aufgetreten wäre. Das hätte für mich die Situation grundsätzlich geändert. Dagegen habe ich heute, nach all ihren Statements und persönlichen Äusserungen, keinen Anlass, an ihrer politischen Distanz zum Putin-Regime zu zweifeln.
Es gibt allerdings zwei Momente in Netrebkos Biografie, die nach wie vor Fragen aufwerfen. 2012 und 2018 taucht ihr Name auf Unterstützerlisten für Putin im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen auf.
Die Unterschrift von 2012 hat Netrebko eingeräumt. Sie entsprach damals offenbar ihrer politischen Überzeugung. Für das Jahr 2018 bestreitet sie, ihr Einverständnis für die Aufnahme in die Liste gegeben zu haben. Sie ist nach eigener Aussage schon 2012 weder bei Wahlkampfveranstaltungen aufgetreten, noch hat sie irgendwelche finanzielle Unterstützung geleistet. Auch wenn uns die Parteinahme für Putin 2012 heute, im Rückblick, befremdet, muss man gerechterweise sagen: Das ist noch zwei Jahre vor der Besetzung der Krim. Die historischen Kontexte sind wichtig, sie werden von Kritikern Netrebkos oft bewusst ignoriert.
Der zweite Vorwurf wiegt gerade wegen des Kontextes schwer: Neun Monate nach der Annexion der Krim hat Netrebko im Dezember 2014 eine Million Rubel – damals etwa 15 000 Franken – an das Opernhaus in Donezk gespendet. Überbringen sollte das Geld ausgerechnet der prorussische Separatistenführer Oleg Zarjow.
Anna Netrebko hält bis heute an ihrer Darstellung fest, dass ihr die Person und die politische Rolle von Zarjow zu dem Zeitpunkt nicht bekannt waren. Sie sei auch von dessen Ansinnen überrumpelt worden, mit ihm für ein Foto mit der Flagge von «Neurussland» zu posieren. In einem Interview mit der «Zeit» hat sie 2022 gesagt, sie habe die Fahne nicht erkannt und zunächst für einen Schal gehalten. Einfach, weil ihr damals bei ihren zahllosen öffentlichen Terminen häufig Leute irgendetwas überreicht oder geschenkt hätten.
Nehmen Sie ihr das ab?
Es wirkt sehr unbedarft, keine Frage. Aber Netrebko hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass sich ihr Leben nicht um Politik, sondern in erster Linie um ihre Kunst als Sängerin dreht. Man muss sich auch da wieder den Kontext vor Augen führen: Sie ist damals eine weltweit gefragte Künstlerin, die international auftritt, am seltensten in Russland selbst. Ich nehme ihr ab, dass sie zu spät erkannt hat, dass sie und ihre Spende in übler Weise instrumentalisiert wurden. Sie selbst betont den caritativen Aspekt: dass sie den Kollegen dort am Opernhaus Donezk nur helfen wollte. Aber mit dem heutigen Wissen um die politischen Zusammenhänge wirkt das Ganze zweifellos wie eine grosse Dummheit.
Es sind allerdings solche Vorgänge, die die Vorbehalte gegenüber Netrebko nicht verstummen lassen. Erst jüngst hat die ukrainische Botschafterin in der Schweiz das Zürcher Engagement in einem offenen Brief kritisiert. Darin werden Netrebko zwar «aussergewöhnliche künstlerische Fähigkeiten» zugestanden, doch ihre «öffentliche Rolle» gehe weit über die Kunst hinaus. Seit vielen Jahren stehe ihr Name «in enger Verbindung mit dem russischen Regime».
Die ukrainische Botschafterin war unterdessen hier im Opernhaus, zusammen mit zwei Mitarbeitern, und wir haben gemeinsam mit dem Verwaltungsratspräsidenten 90 Minuten lang diskutiert. Es war ein konstruktiver, guter Austausch, in dem beide Seiten ihre Positionen deutlich machen konnten. Die Botschafterin vertritt, genau wie in dem offenen Brief, den Standpunkt, die russische Seite vereinnahme Netrebko. Ich bin der Ansicht, und da unterscheiden wir uns, dass Netrebko durch ihre Äusserungen und durch ihr Handeln seit 2022 unter Beweis gestellt hat, dass sie eine unabhängige Persönlichkeit ist.
Also gerade keine kulturelle «Drohne» aus Russland, wie es in dem Schreiben der Botschafterin zugespitzt heisst?
Anna Netrebko ist eine unabhängige Künstlerin, die als solche auch wahrgenommen werden möchte und die ihre Unabhängigkeit nicht zuletzt dadurch unterstreicht, dass sie an einer klar proukrainisch positionierten Bühne wie dem Opernhaus Zürich auftritt. Trotz der schrecklichen, für die Ukraine absolut brutalen Situation würde ich mir wünschen, dass das Positive daran gesehen wird: dass hier jemand Brücken zu schlagen versucht und sich eben nicht politisch missbrauchen lässt.
Premiere «La forza del destino»: 2. November, 18 Uhr, Oper Zürich (ausverkauft). Weitere Aufführungen bis 21. Dezember.
nzz.ch