Die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey werfen der Rechten «Zerstörungslust» vor – nach den Ausschreitungen in Bern fragt man sich, ob diese Analyse am Reissbrett entstanden ist

Donald Trump und die AfD wollten den liberalen Rechtsstaat zerstören, sagen die Schweizer Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey. Das Wüten der Linken nehmen sie nicht zur Kenntnis.
Christian Marty
Peter Klaunzer / Keystone
Der Soziologe Max Weber hat mehrmals betont, der typische Repräsentant des deutschen Geisteslebens sei im Grunde ein «Spiessbürger»: Die Arbeiten von deutschen Intellektuellen seien gründlich, verständlich geschrieben, sorgfältig mit der einschlägigen Literatur verknüpft – doch bei alldem zeigten sich ihre Verfasser nicht nur als Langweiler, sondern auch als engstirnige Moralapostel.
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Webers Analyse ist boshaft. Doch manchmal fühlt man sich auch mehr als hundert Jahre nach Max Weber noch an sie erinnert. Zum Beispiel beim an der Universität Basel lehrenden Autorenduo Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey. Vor einigen Jahren legten die beiden Soziologen eine vielbeachtete Studie zum Querdenker-Milieu vor. Nun präsentieren sie unter dem Titel «Zerstörungslust» eine zeitgeistige Analyse dessen, was sie mit einem ebenso pointierten wie problematischen Begriff als «demokratischen Faschismus» bezeichnen: einen Faschismus, der in der Demokratie verankert ist und sich als Erneuerer der Demokratie versteht.
In Schutt und AscheWorum geht es? Am Anfang stand eine gründliche Forschungsarbeit: Man befragte 2600 Personen online und interviewte 41 davon persönlich, darunter AfD-Anhänger und Menschen mit libertären Ansichten. Auf dieser Basis legen die beiden ein verständlich geschriebenes Buch über «Zerstörungslust» vor. Die Hauptthese: Als «Reaktion auf die Desillusionierungen der Moderne» sei in Teilen der Gesellschaft eine schier unbändige Lust entstanden, die gegenwärtige Gesellschaftsordnung zu zerstören. Nicht wenige der untersuchten Personen – mehr als ein Drittel – hätten destruktive Tendenzen und wollten die Welt «mitsamt ihren Regeln in Schutt und Asche legen».
Innerhalb der Gruppe, die eine Sehnsucht nach Zerstörung an den Tag legt, gibt es laut Amlinger und Nachtwey drei Untergruppen: zum einen die Erneuerer, welche die Wiederherstellung traditioneller Hierarchien zum Ziel haben. Dann gebe es die Zerstörer, welche die Zerstörung existierender Ordnung als Selbstzweck erachten. Die dritte Gruppe schliesslich seien die «Libertär-Autoritären», denen es darum gehe, anstelle des regulierenden Staats einen zügellosen, unterdrückenden, eben «autoritären» Kapitalismus zu setzen.
Mit dieser Analyse lassen es Amlinger und Nachtwey nicht bewenden. Gegen Ende des Buches beschwören sie unter dem Titel «Ein neuer Antifaschismus» eine Reihe von Lösungsvorschlägen – dies mit unzähligen Verweisen auf namhafte Vertreter der Kritischen Theorie. Dabei trieft es vor Gemeinschaftspathos. Gefordert werden «Solidarität», «eine Gesellschaft, die Lust auf Teilhabe macht» und zudem, noch besser, «eine demokratisch eingebettete und zum Teil geplante Ökonomie».
GemeinschaftspathosDie unfreiwillige Pointe liegt dabei darin, dass die Lieblingsdenker des Autorenduos – allen voran Theodor W. Adorno – mit solchem Pathos rein gar nichts anfangen konnten. Was die Analyse betrifft, wäre Adorno wohl mehr oder minder einverstanden: Der Kapitalismus produziert auch Ungleichheit. Ungleichheit führt auch zu Unzufriedenheit. Unzufriedenheit geht auch einher mit der Lust, diese Ungleichheit zu beseitigen, auch mit Gewalt.
So weit, so gut, selbst wenn diese Diagnose nicht besonders originell ist. Der pathetische Aufruf zur Transformation der vermeintlich asozialen Gesellschaft in eine solidarische Gemeinschaft allerdings ist naiv und provinziell. Von Adorno würde sie bestenfalls belächelt. Denn dieser Aufruf hätte für ihn auch ein konformistisches Moment – und wäre damit selbst ein Stück Antimodernismus. Ein Blick in die Geschichte genügt: In Gemeinschaften sind die, die sich nicht zu ihnen bekennen, seit je ausgeschlossen, auch wenn noch so viel gesagt wird, dass «alle» dazugehören würden.
Das Chaos in BernUnabhängig von der oberflächlichen Analyse und vom untauglichen Lösungsvorschlag: Die beiden Soziologen ordnen die von ihnen analysierte Zerstörungslust praktisch ausschliesslich dem rechten Spektrum zu. Und man fragt sich, ob diese Analyse am Reissbrett entstanden ist. Vielleicht hätten Amlinger und Nachtwey ihren Blick ab und zu von den Interviewbögen ihrer Umfragen abwenden sollen. Zum Beispiel auf die Anti-Israel-Demonstrationen, wie sie seit dem 7. Oktober 2023 an der Tagesordnung sind. Bestand der Mob, der seiner Zerstörungslust am vergangenen Wochenende in der Berner Innenstadt freien Lauf liess, aus AfD-Sympathisanten?
Im Anschluss an Max Webers Kritik am deutschen Intellektuellen hat Adorno präzis ausgeführt, woran Wissenschafter oft scheitern. Im achten Kapitel der «Minima Moralia» spricht er von deren Neigung, ihre eigenen Ansprüche zu unterlaufen: Im Glauben daran, dass man nicht nur eine möglichst grosse Leserschaft erreichen, sondern auch möglichst grosse Praxisrelevanz bieten solle, tendierten sie dazu, «den geistigen Anspruch an sich selbst zu lockern, unter das Niveau zu gehen, in Sache und Ausdruck allen möglichen Gewohnheiten zu folgen, die man als wach Erkennender verworfen hat».
Man will es denen recht machen, auf deren Zustimmung man hofft, und dabei auch irgendwie nützlich sein. Ein Buch, das daraus resultiert, bewegt sich, wie Max Weber sagen würde, auf dem «Niveau eines Teetisches». Wer weiss: Allenfalls schreiben Amlinger und Nachtwey ihre nächste Arbeit tatsächlich im Geist der Kritischen Theorie. Und damit auch unter Berücksichtigung von Adornos Forderung, die Erwartung des Zielpublikums stets radikal zu torpedieren. Möglich wäre dann, dass sie eine wirklich kritische Kritik der bestehenden Verhältnisse vorlegen – und nicht bloss eine brave Studie, die auf den Applaus des Zielpublikums aus ist.
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 453 S., Fr. 44.90.
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