Memoiren von Egon Krenz | Hauptsache, keine Gewalt
Wolfgang Harich, der Mann mit den meisten Haftjahren von allen politischen Gefangenen in der DDR, hat es gesagt. Frank Schirrmacher, die Figur mit der stärksten intellektuellen Strahlkraft unter sämtlichen bisherigen Herausgebern der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, hat es geschrieben. Und auch Peter Gauweiler, vielleicht der letzte Intellektuelle der gegenwärtigen CSU, hat es öffentlich bekundet: Egon Krenz, der letzte Generalsekretär der SED, verdient Lob für sein Agieren im Jahre 1989. Denn maßgeblich er – zusammen mit dem Chef des NVA-Hauptstabes Fritz Streletz – hat dafür gesorgt, die Anwendung von staatlicher Gewalt gegen die Demonstrationen im Herbst jenes Jahres zu unterbinden. Dazu gehörte es, sich mit den Chefs der sowjetischen Truppen in der DDR zu verständigen, sie mögen doch bitte die turnusmäßigen Herbstmanöver abblasen und ihre Soldaten in den Kasernen lassen.
Nein, das ging nicht von Gorbatschow aus, sondern von Krenz. Die DDR, die den Frieden als Staatsdoktrin begriff, besudelte sich in ihrem Untergang nicht mit dem Blut unzufriedener Bürger. Im dritten, abschließenden Band seiner Memoiren schildert Krenz insbesondere die Vorgänge um die entscheidende Montagsdemonstration am 16. Oktober 1989 in Leipzig detailliert und plausibel. Seine Darstellung dieser Sache wird Bestand haben, auch wenn noch weitere Wellen der versuchten DDR-Delegitimierung anbranden.
Egon Krenz’ Beschreibung seines Denkens und Handelns setzt in diesem Band mit der Jahreswende 1988/89 ein. Was er über die dann folgenden Monate mitteilt, ruft beklemmende Gefühle zurück, die damals in der DDR nicht nur Mitglieder der SED befielen. Was sollte werden mit diesem kleinen Vaterland? Dessen Führung sorgte für eine bleierne Zeit, insbesondere im Sommer und Frühherbst, indem sie sich weigerte, die rapide zunehmende Unzufriedenheit zur Kenntnis zu nehmen. Statt einer befreienden Aussprache gab es unvermindert Erfolgspropaganda. Und die da oben wurden von denen da unten mangels sichtbarer Differenzierung als monolithische Gruppe wahrgenommen, zu der eben auch Egon Krenz gehörte. Als er und Günter Schabowski den Griff an die Notbremse wagten, war der Zug recht eigentlich schon entgleist.
Und das keineswegs, weil Erich Honecker sich weigerte, Gorbatschows Kurs zu folgen. Dessen »Perestroika« hatte sich spätestens 1987 wegen ihrer Konzeptionslosigkeit für die Menschen in der Sowjetunion als gigantischer Flop erwiesen. Hätten das Westfernsehen, was es nicht tat, und das DDR-Fernsehen, was es nicht durfte, über die leeren Regale in Moskauer Läden berichtet, die Luft aus den Propagandaballons von »Glasnost« und »Perestroika« wäre rasch verzischt. Aber konnte die DDR mit ihrem eklatanten Produktivitätsrückstand zum Westen sich selbst aus dem Sumpf ziehen? Die verspielten Jahre seit der vollständigen Entmachtung Walter Ulbrichts 1971, ließen sie sich aufholen?
Der damalige personelle Wechsel zu Honecker war vor allem ein konzeptioneller. Ulbricht hatte spätestens seit dem Mauerbau 1961 für die rohstoffarme DDR auf eine intelligenzintensive Produktion gesetzt, auf Computerisierung, Wissenschaft als Produktivkraft, eine moderne industrielle Basis und darauf, die Herstellungslust mit Marktelementen anzureizen. Honecker war der Mann an der Spitze einer aus Moskau geförderten Fronde gegen diesen Kurs gewesen, und er trieb dann als Nummer Eins in Partei und Staat eine Politik auf Pump, die letztlich eine Existenz auf Kosten der Substanz bedeutete.
Mit den Moskauern war ein Blumentopf nicht zu gewinnen – und ohne sie auch nicht. Reste des Brüderlichen im Verhältnis der »Bruderländer«, jedenfalls was die höchste Ebene betraf, hatte Gorbatschow eliminiert. Egon Krenz’ Darstellung macht das Dilemma wieder greifbar, auch wenn er dieses und jenes in ein gemildertes Licht taucht, so zum Beispiel die faktische sowjetische Sabotage der Ulbrichtschen Politik zu einer kritischen Sicht des Kreml auf dessen Wirken herabstuft.
In der kurzen Zeit – es waren 49 Tage – , die Krenz an der Spitze der SED stand, ereigneten sich Dinge von historischer Bedeutung. Das Herausragende war der Fall der Mauer am 9. November 1989. Auch die Abläufe dieses Tages, an dem das SED-Zentralkomitee zusammenkam, schildert er glaubhaft, soweit sie sein Handeln betreffen. Seiner Sicht auf Schabowskis Verhalten auf der berühmten Pressekonferenz mit Medien aus aller Welt allerdings kann ich nicht folgen. Krenz schreibt, er habe Schabowski bei der ZK-Tagung gegen 17.15 Uhr sein Papier zur neuen Reiseregelung mit der Bemerkung »Das ist die Weltnachricht« in die Hand gedrückt. »Schabowski«, so Krenz, »sollte auf der Pressekonferenz darüber informieren, dass anderntags diese neue Verordnung veröffentlicht werden würde. Doch er trug den Text im Wortlaut vor, obgleich die Sperrfrist auf 4.00 Uhr festgelegt worden war.«
Hätte das funktionieren können? Wohl kaum. Was hätte Schabowski denn der Weltpresse mitteilen sollen? Dass am nächsten Tag eine Reiseregelung veröffentlicht werde, ohne zu sagen, was in dieser steht? Schabowski war Medienprofi genug, den Holzweg zu erkennen. Höchstwahrscheinlich war ihm auch klar, wie wenig die Crew der Honecker-Stürzer Moskaus Wunschvorstellungen entsprach, woher der Wind bei den innerparteilichen Aktivitäten wehte, sie aus dem Großen Haus am Werderschen Markt zu vertreiben. Seine drei Worte »ab sofort« und »unverzüglich«, die den Tsunami auslösten, der Gorbatschow kalt traf und im Übrigen auch die Rechte der UdSSR als alliierte Macht in Berlin pulverisierte, können ebenso gut als ein spontaner Eingebung geschuldeter, bewusster Akt gedeutet werden, als eine Art Befreiungsschlag. Nur musste es wie ein Unfall aussehen. Schabowski hatte eine russische Frau, deren Verwandtschaft in Moskau lebte. Und wer mit ihm öfter zu tun hatte, zum Beispiel in seiner Zeit als Chef der nd-Redaktion, weiß: Den Schwejk hatte er drauf. Seine späteren »Wir-haben-alles-falsch-gemacht«-Arien haben die Sicht auf Schabowski, so oder so, stark beeinflusst, für die Vorgänge des 9. November 1989 aber sind sie ohne Belang.
Die seltsamste Neuigkeit, die Egon Krenz mitteilt: In ihrer recht gespenstischen Sitzung vom 20. und 21. Januar 1990 hat die Schiedskommission der SED-PDS als solche ihn und Schabowski gar nicht aus der Partei ausgeschlossen. Günther Wieland, der damalige Leiter der Kommission, habe ihm später den Entwurf zu deren Pressemitteilung gezeigt. Darin hieß es, insbesondere Krenz, aber auch Siegfried Lorenz, dem ehemaligen Bezirkschef der SED in Karl-Marx-Stadt, und Schabowski »gebühre Respekt dafür, Anteil daran gehabt zu haben, dass sich der gesellschaftliche Umbruch in der DDR im Herbst 1989 gewaltfrei vollziehen und die machtbesessene Gruppe um Erich Honecker abgelöst werden konnte. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände hat die Schiedskommission davon Abstand genommen, die drei Genannten aus der SED-PDS auszuschließen.« Das Zitierte fehlte am 22. Januar 1990 auf Seite 3 von »nd«, das die »Mitteilung der Zentralen Schiedskommission der Partei« wiedergab, aber nur über das Verbleiben von Lorenz in der Partei informierte. Was hat sich da abgespielt? In der Redaktion des »nd«, das sogar drei Berichterstatter zur Kommissionssitzung entsandte, hätte sich die Unterschlagung niemand getraut. Oder?
Wie wir wissen, hat die bundesdeutsche Justiz 1997 Egon Krenz, den früheren Gesprächspartner vieler Bonner Politiker, wegen »Totschlags und Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR« zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Knapp vier Jahre davon musste er verbüßen. Allein dieses Schicksal sollte seine besser davongekommenen ehemaligen Weggefährten davon abhalten, im Kaffeetanten-Stil ihre vorgestrigen und auch heutigen Animositäten gegenüber dem einst Höhergestellten durchzuhecheln.
Egon Krenz: Verlust und Erwartung. Erinnerungen. Edition Ost, 384 S., geb. 26 €. Von Holger Becker, bis 1995 Wissenschaftsredakteur dieser Zeitung, und Udo Baarck ist soeben das Buch »Johannes Gillhoff. Eine biographische Skizze« über den Autor des Volksbuches »Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer« erschienen.
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