Berliner Biester: Wie es ist, ein Schaf in dieser Stadt zu sein

Ist schon klar, mit mir haben Sie nicht gerechnet, sonst würden Sie sich nicht so echauffieren: Schafe in der Hauptstadt, was für’n Quatsch! Wo denn? Auf dem Alexanderplatz? Im Humboldtforum? Görli? Reicht es nicht, dass Fuchs und Wildschwein immer mehr in unser Leben diffundieren, sodass wir denen bald alles überlassen müssen: Haus, Garten, Campingliege?
Nun, gemach, gemach. Mit uns liegt die Sache etwas anders, wir halten uns nun wirklich vornehm zurück. Denn: Willst du was gelten, mache dich selten. Das haben uns schon unsere Vorfahren eingebläut, die zwischen 8200 und 7500 v. Chr. in Anatolien domestiziert wurden. Die ersten unserer Art. Und was die anderen Viecher in Berlin betrifft, sind wir sogar auf Ihrer, der Menschenseite! Auch wir finden die Kollegen ziemlich dreist und impertinent. Und wir Schafe müssen den ollen Reinicke noch ganz anders fürchten als Sie. Ihnen geht er nicht an die Kinder, unsere jedoch sind ein Leckerbissen für ihn. Quasi ein Amuse-Gueule. An uns Alte traut er sich nicht ran, aber wer weiß, was noch kommt, wenn sein Hunger mit ihm durchgeht.
Obwohl ich es der Fairness halber sagen muss, meine Herrschaften: Viel besser als Meister Reinicke sind Sie nun auch nicht. Nicht nur, dass Sie uns für extrem blöde, einfältig und stulle halten, Sie ermächtigen sich unser auch in barbarischer Manier. Für Sie sind wir nur Fleischkonvolute, mit denen Sie machen können, was Sie wollen. Und das nach Herzenslust auch tun. Was die kranke Großstadtseele eben so zu feiern gedenkt. Oder wie bewerten Sie Vorfälle in dieser Stadt wie diese: Hat doch neulich so ein Irrer zwei von uns in Köpenick in seiner Wohnung geschlachtet! Ja, geht’s noch? Im Landschaftspark Herzberge hatte er die beiden armen Geschöpfe geklaut, auf ihr Fleisch hatte er es abgesehen, so weit zum Stand der Zivilisation 2025 in unserer tollen Hauptstadt. Das Gebrüll meiner Artgenossen drang durchs ganze Viertel.
Den eigenen Plastikdreck nicht wegräumenUnd es geht noch ruchloser: Vor acht Jahren verging sich im Görli ein Typ an einem Pony, ich wette, nur weil er meiner Spezies nicht habhaft werden konnte. Denn unsereins ist für Abartigkeiten dieser Coloeur eindeutig praktischer gebaut: Höhe, Fellbeschaffenheit ... Aber pardon, ich schweife ab und verrenne mich in Pikanterien, die Sie möglicherweise verletzen, so empfindsam, wie Sie in letzter Zeit geworden sind.
Kein Wunder also, dass wir uns rar machen in der Stadt – und meist nur still an ihren Rändern äsen. Im Schlosspark Charlottenburg, in Hahneberg in Spandau oder auf der Hönower Weiherkette. Auf dem begrünten Dach der Max-Schmeling-Halle machen wir uns ab und an als stromlose Rasenmäher verdient, und ja, auch auf dem Tempelhofer Feld stehen ein paar von den Unseren, aber das passt uns so rein gar nicht. Zu innerstädtisch, zu urban. Wir haben die Gewerkschaft angesprochen, zu viel Fuchsgefahr. Zwei allerdings stellen sich bockig, sie bestehen darauf zu bleiben. Im Gegensatz zu uns anderen, die sich eher als durchschnittsbürgerlich verstehen, haben sie andere Ambitionen: hauptstädtischer, diverser, LGBTQIA+-mäßiger – Sie verstehen schon.
Und ganz ehrlich, meinetwegen sollen sie dort bleiben, ihre Auffassungen von Ordnung, Sauberkeit und sonstwas gehen mit unseren so rein gar nicht überein, da passen sie eindeutig besser zu euch City-Menschen. Ihr seid nie darum verlegen, euch einen schlanken Fuß zu machen, ich hörte Selbiges aus dem Mauerpark. Sich Klimaschutz auf die Plakate schreiben, aber dann den eigenen Plastikdreck nicht wegräumen. Ja, nennen Sie mich einen Spießer, dann bin ich’s gern. Ich persönlich empfinde unsere beiden Ausreißer auch zu exaltiert, zu selbstverliebt, zu ich-zentriert. Ständig lassen sie sich scheren, nur damit andere sie nackig sehen können. Und dann diese Gänseblümchen, die sie lässig wiederkäuen à la „Schau mir in die Augen, Kleines“. Also, ich weiß nicht. Laissez faire hin oder her, so etwas wie Sex oder Erotik fällt mir im Zusammenhang mit uns nun gar nicht ein. Aber vielleicht lebe ich auch komplett hinterm Mond.
Nicht, dass wir uns darum reißen würden, aber andere Städte geben eindeutig mehr auf uns, das ist mal klar. In Hamburg halten wir den Rasen am Flughafen kurz, in Nürnberg werden unsere Herden stolz durch die Innenstadt geführt: Seht, da sind unsere Wiesenknabberer! Ein Spektakel ist das jedes Mal, zum Bähen! Und wir fühlen uns geehrt, gesehen, respektiert. Daran sollte sich Berlin ein Beispiel nehmen, es will doch immer so fortschrittsoffen sein. Frage also an Herrn Wegner, der vom Land, aus Spandau, kommt: Warum lässt man uns innerstädtisch nicht auf alle Grünflächen los – und spart Zeit, Lärm und Kraftstoff sowieso? Ich mein ja nur. Muss ja nicht der Winzigpark am Arkonaplatz in Mitte sein, aber selbst da könnten sich zwei Hanseln von uns unentbehrlich machen. Wenn einer effektiv und geräuschlos im Dienst performt, dann doch wir! Da können Sie gern auf uns herabschauen und uns weiter „Pfennigsucher“ schimpfen. Hochmut kommt vor dem Fall.
Wir haben auch Gefühle!Obwohl es eigentlich eine Schweinerei ist, dass wir als Minderheit so behandelt werden. Jede andere trommelt dieser Tage lautstark für ihre Rechte, zumal in Berlin, nur für uns interessiert sich keine Sau. Wir haben auch Gefühle! Auch wir lechzen nach Teilhabe und Sichtbarkeit! Aber nee, nüschte, niente, zero! Gerade mal im Tierpark tauchen ein paar Kollegen von uns auf, natürlich nur die Obercoolen. Nicht so Weißbrote wie wir. „Skudden“ heißen die oder „Walliser Schwarznasenschafe“. Wenn man uns wenigstens auf einen kleinen Sockel heben würde, dafür, dass wir so rundum wertvoll und verwertbar sind, dass man jede unserer Fasern gebrauchen kann – aber nicht mal das. Überlegt mal: Wolle, Fleisch und Milch – jeden Tag labt ihr Menschen euch an uns. Leime und Kerzen stellt ihr aus uns her, mit unserem Darm bespannt ihr eure Tennisschläger!
Und weil ihr Menschentiere immer so gern irgendwelche Zeitenwenden beschwört, aber nach wie vor für die Verwüstung des Planeten sorgt: Vielleicht denkt ihr zwischendurch auch mal an uns, an die stummen Lebewesen, die euch Kraft eurer Wassersuppe unterworfen sind. Weil ihr leider die Bestimmer seid. Euch dazu gemacht habt. Sieht man ja jetzt, wohin uns alle das gebracht hat. Lebt auch achtsam mit uns, ihr Selbstoptimierer, Individualisten, Yoga- Aficionados und Prenzlauer-Berg-Mütter. Und tut gerade bei uns Schafen nicht immer so von oben herab. Ich wette, wenn es hart auf hart kommt mit Klimakrise, Kriegen und Co., dann haben wir den längeren Atem. Die härteren Gene sowieso.
Berliner-zeitung