Wenn der Rechtsstaat zusammenbricht...

Die Türkei erlebt einen tiefgreifenden Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit. Wenn ein Staat nicht mehr „nach den Regeln“ handelt, sondern „die Regeln ändert“, geht es nicht nur um das Recht. Es geht um die gesamte Lebensordnung. Denn wo die Gerechtigkeit schwindet, wird die Gleichheit gestört; die Vorhersehbarkeit verschwindet; die Menschen verlieren das Vertrauen in Institutionen und den Staat. Letztlich werden die Wunden nicht nur in den Gerichtssälen, sondern auch in Schulen, Krankenhäusern, Betrieben und sogar in den Familien geschlagen.
Laut dem Rechtsstaatlichkeitsindex 2024 des World Justice Project belegt die Türkei Platz 117 von 142 Ländern und Platz 38 von 41 Ländern mit höherem mittlerem Einkommen. Dieser Abstieg ist nicht neu. Das nach dem Putschversuch von 2016 entstandene exekutivzentrierte System hat die Widerstandsfähigkeit unabhängiger Institutionen gebrochen und das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz untergraben. Mit der schrittweisen Schwächung der institutionellen Strukturen ist das Prinzip der Machtbegrenzung nahezu verschwunden.
Der Bericht der Initiative „Verhaftete Anwälte“ fasst dieses Bild eindrucksvoll zusammen:
Die Türkei befand sich in diesem Index nie in der „grünen“ Kategorie. Ihr rasanter Abstieg ans Ende der Liste ist jedoch frappierend. Der Index zeichnet ein realistisches Bild der Türkei unter der Ein-Mann-Herrschaft, in der Grundrechte praktisch nicht geachtet werden. Es ist ein Land, das zwar durch das Prinzip der Herrschaft des Rechts regiert wird, aber nicht durch die Rechtsstaatlichkeit.
Tatsächlich geht es nicht nur um einen Rückgang der „institutionellen Qualität“, sondern um einen umfassenderen Zerfall, der sich von der Wirtschaft bis zum sozialen Wohlergehen erstreckt. In einem Land, in dem die Rechtsstaatlichkeit schwächer wird, schwindet das Vertrauen der Investoren, Verträge verlieren ihre Bedeutung und das regulatorische Umfeld wird unberechenbar. Kurz gesagt: Die Aushöhlung der Justiz trocknet die Lebensadern der Wirtschaft aus.
Die Türkei erreicht im Korruptionswahrnehmungsindex (CPI-2024) lediglich 34 von 100 Punkten. Vor zehn Jahren lag dieser Wert noch bei 50. Mit Platz 107 von 180 Ländern gilt die Türkei aufgrund mangelnder Kontrolle und Transparenz als abschreckendes Beispiel. Dies ist nicht nur ein ethisches Problem, sondern beeinträchtigt auch die gerechte Verteilung öffentlicher Mittel, den Wettbewerb und die Effizienz erheblich.
Auch beim Thema Geschlechtergleichstellung sieht es nicht anders aus. Im „Global Gender Gap Index“ des Weltwirtschaftsforums 2024 belegt die Türkei Platz 129 von 146 Ländern. Die Kluft bei der wirtschaftlichen Teilhabe, der politischen Repräsentation und der Einkommensgleichheit von Frauen vergrößert sich. Der „Sustainable Governance Index“ der Bertelsmann Stiftung bestätigt dies: Die Türkei rangiert in Europa bei den Indikatoren für Demokratie und Teilhabe am schlechtesten. Es geht hier nicht nur um Geschlechtergleichstellung; dieser Verlust wirkt sich unmittelbar auf die Produktionskapazität, das Arbeitskräftepotenzial und die Qualität des Wirtschaftswachstums aus.
Das Bild ist im Bildungsbereich ähnlich. Laut dem SGI-Bericht rangiert die Türkei trotz einiger Fortschritte bei den PISA-Tests und der Beteiligung an Hochschulbildung weiterhin im Qualitätsranking. Gemäß den PISA-Daten von 2022 belegt die Türkei in Mathematik Platz 39 von 81 Ländern, in Lesekompetenz Platz 36 und in Naturwissenschaften Platz 34. Die durchschnittlichen Schülerleistungen liegen deutlich unter dem OECD -Durchschnitt. Anders ausgedrückt: Die quantitativen Leistungen verbessern sich zwar, die Qualität bleibt jedoch unzureichend. Diese Situation mindert langfristig die Qualität des Humankapitals und schränkt die Produktivität des Landes ein.
Die Vermögensverteilung verdeutlicht dasselbe. In Ländern mit schwachen Institutionen konzentriert sich das Wachstum oft auf wenige Auserwählte. In der Türkei vergrößert sich die Einkommenskluft, und die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter jungen Menschen, verfestigt sich. Wie eine Studie der Cornell University („Jenseits des Wachstums: Ungleichheiten in der Türkei“) betont, „wird Wirtschaftswachstum allein die Ungleichheit nicht beseitigen; institutionelle Qualität ist unerlässlich.“
Die Daten zum Gesundheitswesen sind ebenfalls alarmierend. Laut OECD betragen die Gesundheitsausgaben der Türkei lediglich 4,7 % des BIP, weniger als die Hälfte des OECD-Durchschnitts. Die Anzahl der Ärzte pro tausend Einwohner liegt bei 1,9, die der Pflegekräfte bei nur 2,4. Die Pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitswesen belaufen sich auf ein Viertel des OECD-Durchschnitts. Diese Zahlen belegen einen Rückgang der Qualität und des Zugangs zur Gesundheitsversorgung trotz des quantitativen Ausbaus der Leistungen.
All diese Indikatoren haben eine gemeinsame Ursache: die Schrumpfung der staatlichen Machtzentrale. Das Referendum von 2017 und das darauf folgende präsidentielle Regierungssystem schwächten die Gewaltenteilung und konzentrierten Entscheidungsprozesse in einer einzigen Instanz. Transparenz verschwand, und Interessenkonflikte wurden zum alltäglichen Bestandteil der Politik. Die Aufsicht über das öffentliche Beschaffungswesen, Anreize, die Praktiken von Staatsfonds und öffentlich-private Partnerschaften blieb nahezu symbolisch.
Der bedeutendste Verlust ist zweifellos der Vertrauensverlust. Mit dem Zerfall des Rechtsstaats hat sich in der Gesellschaft die Auffassung verbreitet, dass „Regeln nicht für alle gleichermaßen gelten“. Diese Stimmung führt zu Verzweiflung bei Geringverdienern, Hoffnungslosigkeit bei jungen Menschen und Risikoaversion bei Unternehmern. Da die Menschen nicht mehr in der Lage sind, langfristige Pläne zu schmieden und Investoren misstrauen, sinkt ihre Produktionsmotivation, was den Konsumwunsch verstärkt.
Die Situation, vor der die Türkei heute steht, betrifft nicht nur das Recht; sie steht in direktem Zusammenhang mit unserer Lebensqualität. Denn wenn das Recht zusammenbricht, bricht mit ihm nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die Hoffnung zusammen.
BirGün




