Wieso wir so wenig über die Tiefsee wissen – und was es dort Wichtiges zu finden gibt

Erst sieht Florence Schubotz nur Meeresboden. Es ist stockdunkel. Kein Licht kommt bis hierher, zwei bis drei Kilometer unter Wasser. Der Tauchroboter rückt vor, die Meeresforscherin verfolgt seine Wege mithilfe von Kameras an Bord eines Forschungsschiffes in der Oberwelt, mitten im südlichen Golf von Mexiko. Plötzlich tauchen ein bis zwei Meter hohe Öl- und Asphaltberge auf. Die Strukturen ähneln Lava, über hunderte Meter hinweg. Röhrenwürmer schauen aus Spalten, an manchen Stellen tritt Methan und Schweröl aus dem Meeresboden aus.

Asphaltvulkane im südlichen Golf von Mexiko: Ihr Grundgerüst besteht aus Salz.
Quelle: MARUM – Zentrum für Marine Unweltwissenschaften, Universität Bremen
Trotz Meerestiefe, Finsternis, vier Grad kaltem Wasser, an manchen Stellen Hitze bei bis zu 50 Grad findet die Geochemikerin hier Leben. Zwar keine Pflanzen im klassischen Sinne. Aber Bakterien versammeln sich in großen, weißen Matten. Auch höheres Leben: Krebse und Seegurken etwa. Schubotz weiß: All das hat vor ihr noch kein Mensch gesehen.
Man könnte meinen, jeder Winkel des Meeres sei mittlerweile erfasst. Aber die Tiefsee ist weitgehend unerschlossen. Ein US-Forschungsteam schätzt, dass nicht einmal 0,0001 Prozent des weltweiten Tiefseebodens visuell erfasst wurde. Das sei eine Fläche, die einem Zehntel der Größe Belgiens entspricht, schreiben die Autoren und Autorinnen in einer im Mai 2025 im Fachblatt „Science Advances“ veröffentlichten Studie. Dabei bestünden 66 Prozent der gesamten Erde aus Tiefsee - wenn man sich auf eine Definition verständigt, dass alles unterhalb von 200 Metern Tiefe gemeint ist.

Forschende schicken den Tauchroboter "QUEST4000" in die Tiefsee, um Probematerial von Schwarzen Rauchern zu entnehmen.
Quelle: MARUM – Zentrum für Marine Unweltwissenschaften, Universität Bremen
Geforscht werde zudem an den immer gleichen Orten. Von 44.000 Tiefseetauchgängen fanden 97 Prozent nahe den USA, Japan und Neuseeland, Frankreich und Deutschland statt, heißt es in der Datenauswertung. Das sei problematisch, resümieren die Forschenden, vor allem „wenn man versucht, einen globalen Ozean zu charakterisieren, zu verstehen und zu managen.“
Einige Jahre zurück liegt Schubotz Forschungsreise zum südlichen Golf von Mexiko mittlerweile – die Erinnerung an den neu entdeckten Tiefsee-Hotspot ist aber noch sehr präsent. „Das ist wirklich Gänsehautfeeling, wenn wir so ein neuartiges System mit unwirklichen Strukturen in der Tiefsee entdecken”, erinnert sich die Wissenschaftlerin.

Die Zonen im Meer gehen bis zu 11.000 Meter in die Tiefe.
Quelle: Patan/RND
Auch anderswo ist sie abgetaucht, hat in Sedimente im Nankaigraben vor der Küste Japans gebohrt, selbst bei Temperaturen um die 120 Grad Celsius noch lebendige Mikroorganismen gefunden. Ist aber auch schon ohne Erfolg abgetaucht, hat vor einem brasilianischen Militärstützpunkt im Mittelatlantik heiße Quellen mit schwarzen Rauchern vermutet, aber am Meeresgrund keine gefunden.

Schwarze Raucher, drei Kilometer tief am Meeresgrund: Rund 50 Grad heiß kann es an ihnen werden. Manche Bakterien können in dieser Extremumgebung leben.
Quelle: MARUM – Zentrum für Marine Unweltwissenschaften, Universität Bremen
Dass es weltweit nur punktuell Topographiekarten vom Meeresboden gebe, habe auch damit zu tun, dass solche Ausfahrten sehr aufwändig sind, erklärt Schubotz. Allein die Planung: Minimum ein Jahr Vorbereitungszeit brauche es für eine einmonatige Ausfahrt.
Man schaue sich Tiefenprofile, Satellitendaten und die Chemie von Wasserproben an, um besser eingrenzen zu können, wo im Meer sich mutmaßlich kalte oder heiße Quellen am Boden verstecken. Forschungsschiffe, Tauchroboter, Probenmaterial, Personal müssten bereit sein. Vor Ort gebe es bis zu zwölf Tauchgänge. Das Wetter muss stimmen, zu viel Welle darf nicht sein. Man müsse sich genau überlegen, wo die Roboter abgelassen werden. Die Zeit ist begrenzt: Innerhalb von acht Stunden muss der Meeresboden gescannt und beprobt werden.
Florence Schubotz
Geochemikerin
Ein Surren schlägt Schubotz entgegen, als sie im Zentrum für Marine Umweltwissenschaften in Bremen ihr Labor betritt. Hier geht die Arbeit nach einer Ausfahrt erst richtig los. Ihr Team untersucht Bakterien und Gestein, füttert die Proben, schaut, welche Signaturen sie haben.
Eine der großen Fragen: Wie schaffen es die Mikroorganismen in der unwirtlichen Tiefsee, sich zu ernähren? Da, wo kein Sonnenlicht hinkommt, wo alles anders funktioniert als in der Welt an der Oberfläche. „Die Bakterien in der Tiefsee leben quasi von nichts“, erklärt Schubotz. „Sie atmen das Gestein.“ Anorganisches Material ist ihre Nahrungsgrundlage: also etwa Kohlenstoffdioxid. Ihre Energie gewinnen sie aus Verbindungen mit Eisen oder Schwefel.

Forscherin Florence Schubotz (l.) und Geochemie-Doktorandin Melina Krohn im marum-Labor
Quelle: Saskia Heinze
Trotz der Abgeschiedenheit hat Schubotz Team bislang an den Tiefsee-Hotspots Abdrücke von Menschen gefunden. Coladosen, Plastik, sogar einen Kühlschrank, mitten im Atlantik. „Das ist natürlich schockierend, aber die Mikroorganismen in der Tiefsee sind unglaublich resilient”, sagt die Meeresforscherin. „Die werden uns überleben.“ Schließlich seien das die ursprünglichen Lebensformen. Also solche, die es schon gegeben hat, bevor sich unsere heutigen Stoffwechselkreisläufe in der Pflanzen- und Tierwelt entwickelt haben.
US-Präsident Donald Trump will den Abbau von Rohstoffen sowohl in internationalen als auch nationalen Gewässern beschleunigen. So soll demnächst etwa die kanadische Firma „The Metals Company“ (TMC) Manganknollen am Meeresboden abbauen. Die schwarzen Klumpen in 4000 bis 6000 Metern Tiefe enthalten wertvolle Metalle: Mangan, Eisen, Nickel, Kupfer, Titan und Kobalt. Meeresschützer fürchten, dass dadurch empfindliche Ökosysteme vernichtet werden.
Was bringt uns Menschen mehr Tiefseewissen? Da wären die Fragen zum Ursprung des Lebens, denen man sich nähert. Auch Fragen nach den Limits des Lebens: Wie ist das angepasst, ohne Sauerstoff, ohne Licht, bei Hitze, bei Kälte? Es gebe direkte Anwendungen in unserem Alltag – beispielsweise in der Medizin. Die PCR-Reaktion, auf die etwa unsere Corona-Tests zurückgreifen, basierte auf Proteinen, die von wärmeliebenden Mikroorganismen an heißen Quellen kultiviert werden, erklärt Schubotz. Membranlipide würden auch verwendet, um Produkte hitzebeständiger zu machen.
Und dann wären da noch die Fragen nach den großen globalen Zusammenhängen. Durch die Aktivität von Mikroorganismen wird an heißen und kalten Quellen Kohlenstoff gebunden. „Wir wissen zum großen Teil noch nicht das Ausmaß, wie viel Kohlenstoff gebunden oder freigesetzt wird“, sagt Schubotz. Kann die Tiefsee ein CO₂-Senker sein? Wie hängt der Tiefseekosmos mit den großen Stoffwechselkreisläufen im ganzen Meer zusammen? Könne man solche Rätsel lösen, ließen sich daraus womöglich auch Lösungen für den menschengemachten Klimawandel ableiten. Also: Gibt es vielleicht auch Wege, wie wir unser in die Luft gepustetes CO₂ fixieren und speichern können?
Ob irgendwann all die Geheimnisse am Meeresboden gelüftet sind? Schubotz, die selbst seit rund 22 Jahren zu extremen Lebensbedingungen in der Tiefsee forscht, fände das „fast tragisch, wenn wir alles irgendwann entschlüsselt haben“. Aber auch unrealistisch: Mit jeder neuen Entdeckung finde man nur ein kleines Puzzlestück. Damit kämen aber auch mindestens zehn neue Forschungsfragen auf. „Das ist es ja, was die Tiefsee so aufregend macht.“
rnd