Die Alzheimerdemenz hat mehr Ursachen als gedacht – genau das könnte Anlass zur Hoffnung sein


Einen derart holprigen Start erleben nur wenige Medikamente. Zunächst verweigerte die Europäische Arzneimittel-Agentur dem neuen Alzheimermedikament Lecanemab die Zulassung. Zu schwache Wirkung, zu gross das Risiko von gefährlichen Nebenwirkungen, so hatten die EMA-Gremien vor einem Jahr geurteilt. Der Hersteller klagte, die Behörde gab nach. Doch dann legten einige EU-Staaten ihr Veto ein – ihnen war das Medikament zu teuer.
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Seit dem ersten September ist es nun so weit, zumindest in Deutschland und Österreich. Die letzten EU-Staaten haben ihren Widerstand aufgegeben. Deutschland und Österreich sind die ersten beiden Länder, in denen sich Patienten mit dem Antikörper-Präparat behandeln lassen können. In der Schweiz muss man noch länger warten. Die Prüfung sei noch im Gange, erklärt die Arzneimittelbehörde Swissmedic. Begonnen hatte sie vor 2 Jahren.
«Wissenschaftlich gesehen ist Lecanemab ein historischer Durchbruch», sagt Frank Jessen, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Köln. «Nach 120 Jahren Alzheimerforschung ist es erstmals gelungen, in den Krankheitsprozess einzugreifen und dessen Fortschreiten zu verlangsamen.»
Ein Fortschritt, kein WundermittelDie zögerliche Haltung der Zulassungsbehörden verdeutlicht aber auch: Lecanemab ist ein Anfang, kein Wundermittel. So kommen gerade einmal 10 bis 30 Prozent der Betroffenen für eine Behandlung überhaupt infrage – und das auch nur im Frühstadium der Krankheit. Grund dafür sind Vorerkrankungen und andere Ausschlusskriterien, die das Risiko für Nebenwirkungen wie Hirnblutungen oder -schwellungen noch weiter erhöhen: genetische Risikofaktoren, Verschlüsse und Verkalkungen der Hirnarterien oder die Einnahme von Blutverdünnern beispielsweise.
Und selbst die, die zu diesen Glücklichen zählen, dürfen sich nicht zu viel erhoffen. Bei den Patienten, die das Medikament in den klinischen Studien erhalten hatten, konnte der Abbau der kognitiven Leistung nach achtzehn Monaten um 30 Prozent verlangsamt werden. Das hört sich zwar nach viel an. Konkret entspricht dies jedoch nur 0,45 Punkten auf einer 18-Punkte-Skala, mit der Funktionen wie Gedächtnis oder Problemlösung bewertet werden. Bei der Placebo-Gruppe verschlechterte sich die kognitive Leistungsfähigkeit um 1,66 Punkte, bei den Studienteilnehmern, die mit Lecanemab behandelten wurden, waren es nur 1,21 Punkte.
Je nach Krankheitsverlauf kann dies für Patienten trotzdem bedeuten, dass sie ihre geistigen Fähigkeiten länger behalten können. Getestet wurde Lecanemab allerdings bislang erst über achtzehn Monate. Niemand kann deshalb sagen, ob die Wirkung danach noch weiter anhält. Oder ob sie sich umgekehrt verstärkt, wenn man es immer weiter einnimmt.
Die Theorie, wie Alzheimer entsteht, kommt in die JahreSchon jetzt steht fest: Mit dem Medikament hat sich eine Hoffnung zerschlagen, nämlich, dass die Forschung den Auslöser der Alzheimerkrankheit verstanden hätte. Vor 30 Jahren stellten Wissenschafter die bis heute geltende Theorie über die Entstehung der Krankheit auf: die sogenannte Amyloid-Kaskaden-Hypothese. Sie besagt, dass sich zu Beginn ein kleines Proteinstück namens Beta-Amyloid im Gehirn anreichert und dort zu Klumpen verklebt, den sogenannten Amyloid-Plaques.
Während sich die Plaques im Gehirn ausbreiten, beginnt ein zweiter Prozess: Innerhalb von immer mehr Nervenzellen verknotet sich ein Eiweiss namens Tau. Die knäuelartigen Gebilde führen schliesslich zum Tod der Zellen. Irgendwann machen sich dann die typischen Symptome einer Alzheimerdemenz bemerkbar. Dazu gehören unter anderem Vergesslichkeit, Sprachstörungen und Orientierungsschwierigkeiten.
Amyloid – Tau – Neuronensterben – geistiger Abbau: Entlang dieser Kaskade entwickelt sich laut gängiger Lehrmeinung die Krankheit. Doch ganz so einfach verhält es sich nicht, wie vor kurzem Schweizer Forscher zeigten. Sie waren der Frage nachgegangen, wie gut die Amyloid-Hypothese den Krankheitsverlauf abbildet. Je weiter ein Patient in dieser Kaskade fortgeschritten ist, desto mehr klinische Symptome sollten – laut Hypothese – bei der Person eigentlich auftreten. Zu Beginn der Krankheit, wenn sich die Amyloid-Plaques bilden, sind demnach kaum geistige Einschränkungen zu bemerken. Mit der Ausbreitung von Tau im Gehirn sollte die Demenz dann fortschreiten.
Kaum Symptome trotz reichlich Amyloid im GehirnDas war aber nicht das, was die Forscher bei ihren 256 Probanden beobachteten. Einige der Versuchspersonen hatten zwar reichlich Amyloid und Tau im Gehirn, litten aber kaum unter Symptomen. Umgekehrt war die Gehirnstruktur bei anderen noch relativ intakt, und doch waren sie in ihrer Demenzerkrankung weit fortgeschritten. «Die Biologie und die klinischen Symptome sind nicht so stark miteinander gekoppelt», sagt der Erstautor Augusto Mendes von der Universität Genf. «Nur ein Drittel der Patienten wies klinische Symptome auf, wie man sie bei den entsprechenden pathologischen Veränderungen erwarten würde.»
Über die Gründe lässt sich bislang nur spekulieren. Offensichtlich verläuft der Krankheitsprozess eben nicht wie ein Flussdiagramm. Genetische, klinische und Umweltfaktoren – sie alle können den Weg in die Alzheimerdemenz bremsen oder beschleunigen.
So haben Personen, die trotz Amyloid und Tau im Gehirn kognitiv erstaunlich fit sind, möglicherweise eine höhere Reservekapazität des Gehirns. Das bedeutet, ihr neuronales Netzwerk kann mehr Schäden verkraften, bevor es seine Funktionsfähigkeit verliert. Sie sind in der Lage, bei Ausfällen Ersatz zu rekrutieren. Es ist inzwischen gut belegt, dass Menschen mit hohem Bildungsniveau oder hoher kognitiver Aktivität vergleichsweise spät Symptome zeigen, wenn ihr Gehirn von der Alzheimerkrankheit zerstört wird.
Mehrere Krankheiten zerstören gemeinsam das GedächtnisUmgekehrt dürften bei Personen, die kognitiv schlechter dastehen, als aufgrund der Amyloid- und Tau-Verteilung eigentlich zu erwarten wäre, zusätzliche krankheitsfördernde Prozesse im Spiel sein. Infrage kommen Mikroinfarkte, die durch verkalkte Blutgefässe verursacht werden. Oder Entzündungsprozesse und Eiweissablagerungen, die eigentlich für andere neurodegenerative Störungen typisch sind.
So findet man bei Alzheimerpatienten sehr oft Lewy-Körperchen in den Nervenzellen, die ein Protein namens α-Synuclein enthalten. Genau diese Eiweissklümpchen führen bei der Parkinsonkrankheit wahrscheinlich zum Absterben von Zellen. Eine ähnliche Rolle, glauben manche Forscher, könnten sie auch im Gehirn von Alzheimerpatienten spielen, wo sie den geistigen Abbau noch zusätzlich fördern würden.
Tatsächlich zeigt eine kürzlich erschienene Studie, dass neben Amyloid und Tau eine ganze Reihe von anderen Hirnveränderungen zu einer Alzheimerdemenz beitragen kann. «Möglicherweise sind die heutigen Anti-Amyloid-Medikamente begrenzt wirksam, weil sie nur auf einen kleinen Teil der der Krankheit zugrunde liegenden Biologie abzielen», sagt der Genfer Neuropsychologe Mendes.
Frank Jessen ist überzeugt, dass mit Anti-Amyloid-Antikörpern wie Lecanemab stärkere Effekte möglich wären, wenn Patienten noch früher behandelt würden. Bevor sich das Tau im Gehirn ausbreitet. Er vermutet aber auch, dass man an eine Grenze stossen wird. «Vielleicht gelingt es, die 30-prozentige Verlaufsverzögerung mit noch wirksameren Antikörpern auf 40 Prozent zu steigern, aber irgendwann ist Schluss», sagt er. «Die Alzheimerdemenz ist eine komplexe Erkrankung. Allein durch das Abräumen des Amyloids wird man sie nicht stoppen können, besonders dann, wenn bereits Symptome vorliegen.»
Michael Clevenger / Imago
Allerdings lassen sich die anderen krankhaften Veränderungen heute nur schwer nachweisen. Die Tests, mit denen sich Lewy-Körperchen erkennen lassen, sind zum Beispiel noch nicht in der breiten Versorgung angekommen. «Das Gebiet ist aber sehr dynamisch, in den kommenden Jahren könnten die Diagnose und die Therapie von Alzheimer sehr viel differenzierter werden», glaubt Frank Jessen.
Seiner Ansicht nach stehen wir am Anfang einer neuen Ära, in der immer mehr neurodegenerative Zerstörungsmechanismen frühzeitig erkannt und behandelt werden können. Dazu braucht es aber noch weitere Medikamente, die beispielsweise gegen Tau oder gegen die Lewy-Körperchen wirken. «Heute haben wir Anti-Amyloid-Antikörper. Irgendwann wird es vielleicht auch Anti-Tau- und Anti-α-Synuclein-Medikamente geben», sagt Jessen. Dank solchen Kombinationstherapien, glaubt er, dürfte die Behandlung von Alzheimer immer besser werden.
Unser Verständnis von Alzheimer ist im Wandel. Eines ist klar: Die Krankheit ist viel mehr als nur Amyloid. Es gibt ein komplexes Geflecht weiterer Faktoren, die den kognitiven Abbau beschleunigen oder eben auch bremsen können. Herauszufinden, wie diese ineinandergreifen, um das Fortschreiten von Symptomen möglichst lange hinauszuzögern – das ist die grosse Herausforderung der kommenden Jahre.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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