Ist Holcim Opfer oder Täter? Ein Gericht entscheidet, ob die Schweiz ihren ersten grossen Klimaprozess erlebt


Walhi/Entraide Protestante Suiss / Handout via Reuters
Der Gegensatz war offensichtlich. Statt auf ihrer kleinen indonesischen Heimatinsel Pari, zwischen Mangroven und dem Anlegeplatz für Touristenboote, fanden sich Arif Pujianto und Ibu Asmania am Mittwoch im Saal des Zuger Kantonsrats wieder: zwischen Marmortäfelungen, ehrwürdigen Wandreliefs und vor dem gesenkten Kopf von Jesu am Kreuze. Doch allein dort zu sitzen, war ein Zeichen, dass sich ihre Reise in die Schweiz gelohnt hat.
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Denn das Interesse an ihnen ist gross: Zusammen mit zwei weiteren Bewohnern von Pari möchten Pujianto und Asmania den Schweizer Zementriesen Holcim verklagen. So viele Besucher und Medienvertreter wollten an der Verhandlung teilnehmen, dass sie vom Kantonsgericht in das Regierungsgebäude verlegt wurde. Weil Holcim den Sitz in Zug hat, findet auch die gerichtliche Auseinandersetzung dort statt.
Holcim erkennt eine InszenierungDas liegt am Thema: Es geht um den Klimawandel und Holcims mögliche Verantwortung. Die Produktion von Zement erzeugt viel CO2. Das befeuert die globale Erwärmung. Sie lässt den Meeresspiegel steigen, und die Insel Pari wird immer öfter überflutet. Die indonesischen Kläger wollen dafür Holcim als einen der weltgrössten Zementhersteller zur Rechenschaft ziehen. Sie fordern von dem Konzern Kompensation und schärfere Ziele zur Emissionsreduktion.
Dabei werden die Inselbewohner von drei Nichtregierungsorganisationen unterstützt. Federführend ist das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks). Holcim wirft den Aktivisten vor, eine Inszenierung gestartet und eine Kampagne lanciert zu haben, um gezielt gegen ein Schweizer Unternehmen vorzugehen. Dafür seien die Indonesier ausgewählt und von der Klage überzeugt worden.
Tatsächlich gibt es weltweit unzählige Klima-Klagen – aber dies ist die erste in der Schweiz und gegen einen Schweizer Konzern. Wenn der Fall denn zustande kommt. Genau darum geht es jetzt: Im Sommer 2022 hatten sich die Kläger mit einem Schlichtungsgesuch an Holcim gewandt. So will es das Zuger Recht. Weil Holcim alle Vorwürfe bestreitet, scheiterte die Schlichtung. Daraufhin reichten die Indonesier im Januar 2023 eine Zivilklage ein.
Nun muss das Kantonsgericht entscheiden, ob es diese Klage zulässt. Dafür war am Mittwoch die Hauptverhandlung angesetzt. Holcim möchte verhindern, dass der Prozess zustande kommt. Ein Zivilprozess sei die falsche Plattform für den Kampf um Klimagerechtigkeit, argumentierte Felix Dasser, Anwalt im Auftrag Holcims: «Es sind die falschen Kleider, die falsche Bühne, das falsche Stück. Vier willkürliche indonesische Davids gegen einen willkürlichen Schweizer Goliath.»
Darf ein Schweizer Gericht Klimaziele verordnen?Aus der Sicht von Holcim ist es an der Politik, Vorgaben für den Kampf gegen den Klimawandel zu setzen. Darüber juristisch zu streiten, wäre dann eine Sache des öffentlichen Rechts, nicht des Zivilrechts. Einem Konzern Vorgaben zur Reduktion seiner Emissionen zu machen, würde überschreiten, was ein Zivilgericht leisten könne und dürfe. Darüber hinaus agierten die vier Indonesier als Repräsentanten der ganzen Insel, so Holcim. Auch das sei bei einem Schweizer Zivilverfahren nicht zulässig.
Die Kläger sehen das anders. Die Persönlichkeitsrechte der Indonesier würden durch die Klimaschäden verletzt; ihre Interessen müssten geschützt werden, argumentierte Anwältin Cordelia Bähr, die bereits die Klimaseniorinnen vertrat. Gegen wen und wo man deswegen vor Gericht ziehe, stehe den Klägern frei. Es gehe nicht um den Klimawandel im Allgemeinen, sondern konkret um Schadenersatz und Genugtuung, und damit um Zivilrecht: «Es ist Aufgabe der Gerichte, Recht nicht nur auf bekannte Konstellationen anzuwenden», so Bähr.
Ob die Zuger Kantonsrichter das tun, müssen sie nun entscheiden. Wann sie ihren Beschluss bekanntgeben, ist offen. Orientierung können ihnen die zahlreichen Klimaklagen gegen Konzerne im Ausland geben. So machte der Erdölriese Shell im Jahr 2021 Schlagzeilen, als ihn ein Gericht in den Niederlanden verurteilte, seine Emissionen stärker zu senken – ähnlich wie dies die Kläger nun bei Holcim anstreben.
Das Gericht gab Shell das Ziel einer Reduktion von 45 Prozent bis 2030 gegenüber dem Wert von 2019 vor. Doch im vergangenen November kippte ein Berufungsgericht diesen Entscheid, weil es keine Rechtsgrundlage für diese konkrete Verpflichtung gebe. Nun liegt der Fall beim obersten niederländischen Gericht. Bei Holcim fordern die Kläger eine Reduktion um 43 Prozent bis 2030 und 69 Prozent bis 2040. Das geht deutlich über die derzeitigen Pläne des Konzerns hinaus.
Im Ausland wurden wichtige Klimaklagen zugelassenOder der deutsche Stromkonzern RWE: Ein Bergbauer in Peru forderte von RWE eine Kostenbeteiligung für Schutzmassnahmen. RWE sei aufgrund seiner Kohlekraftwerke mitverantwortlich für die schmelzenden Gletscher des Landes. Allerdings wurde die RWE-Klage im Mai dieses Jahres von einem deutschen Gericht abgelehnt, weil in diesem Fall der Zusammenhang nicht eindeutig nachweisbar sei. Grundsätzlich könnten Unternehmen aber sehr wohl zu Beiträgen verpflichtet sein.
Wie bei RWE fordern die Kläger auch bei Holcim Geld auf Basis des bisherigen Emissionsausstosses des Konzerns – insgesamt 14 400 Franken. Der Löwenanteil der Summe entfällt auf Gegenmassnahmen wie die Anlegung von Mangroven und Dämmen.
Für bereits eingetretene Klimaschäden forderten die Indonesier hingegen nur 4 Franken, rechnete Holcim-Repräsentant Dasser vor. Das zeige die Symbolhaftigkeit der Klage, argumentierte er – und legte selbst symbolisch 4 Franken auf das Rednerpult, um den Betrag sofort zu begleichen.
Diese 4 Franken hat Dasser anschliessend am Rednerpult liegen lassen. Aber vielleicht müssen die Vertreter des Konzerns ohnehin bald wieder im Saal erscheinen. Denn sowohl bei Shell wie auch bei RWE haben die Gerichte die Klagen zumindest zugelassen. Die Verhandlungen beschäftigten die Weltöffentlichkeit jahrelang.
nzz.ch