Frankreichs Spiel mit dem Feuer

Kaum jemand zweifelt daran, dass Premierminister François Bayrou die Vertrauensabstimmung am Montag (8. September) im französischen Parlament verlieren wird. Denn für seine Pläne, mit Budgetkürzungen die französischen Staatsschulden in den Griff zu bekommen, fehlt ihm die Mehrheit.
Wie es weitergeht, steht in den Sternen. Ob es zu Neuwahlen kommt, wie von der rechten Partei Rassemblement National gefordert oder Präsident Emmanuel Macron eine neue Minderheitsregierung installieren kann, ist die politische Dimension der Krise. Bei den wirtschaftlichen Folgen geht es ums Geld und um Frankreichs gigantischen Schuldenberg. Kein EU-Staat ist nach absoluten Zahlen so hoch verschuldet wie das von Präsident Emmanuel Macron geführte Land. Die Staatsverschuldung ist mittlerweile auf über 3,35 Billionen Euro angewachsen, was etwa 114 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Und die Schuldenquote steigt weiter an: Experten haben hochgerechnet, dass sie bis 2030 auf mehr als 125 Prozent des BIP klettern könnte.
Schuldenkönig der EUFrankreich ist so hoch verschuldet, dass es in der EU nur noch von Griechenland und Italien übertroffen wird. Mit einem Wert von 5,4 bis 5,8 Prozent des BIP ist die Regierung in Paris auch für das höchste Haushaltsdefizit in der EU verantwortlich.
Um auf das EU-konforme Defizit-Ziel von drei Prozent zu kommen, muss also kräftig gespart werden. Und weil das politisch nicht durchgesetzt werden kann, reagieren die Finanzmärkte mit Risikoaufschlägen auf französische Staatsanleihen. Zum Teil musste gegenüber den als besonders sicher angesehenen deutschen Staatsanleihen ein so hoher Aufschlag (der so genannte Spread) gezahlt werden wie zuletzt vor mehr als 16 Jahren. Das heißt, für deutsche Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit sind nur etwa 2,7 Prozent Zinsen fällig, für französische sind es um die 3,5 Prozent.
Müssen wir uns also Sorgen um den Euro machen, wenn die Finanzen der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU aus dem Ruder laufen? "Ja, wir sollten uns Sorgen machen. Die Eurozone ist an dieser Stelle nicht stabil", sagt Friedrich Heinemann im Interview mit der DW.
"Ich mache mir jetzt keine Sorgen vor einer kurzfristigen neuen Schuldenkrise in den kommenden Monaten. Aber man muss natürlich fragen, wo das hinführt, wenn ein großes Land wie Frankreich, das schon in den letzten Jahren eine ständig steigende Schuldenquote hatte, sich jetzt politisch weiter destabilisiert", unterstreicht der Ökonom vom Mannheimer ZEW, dem Leibniz-Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung.
Auch viele andere Länder machen historisch hohe Schulden und müssen sich über die Kapitalmärkte Milliardensummen beschaffen. Im Herbst werfen andere große Wirtschaftsnationen wie Deutschland, Japan und die USA Anleihen auf den Markt und auch das ist ein Grund, warum die Anleihemärkte äußerst angespannt sind.
"Dass die Anleihemärkte nicht noch nervöser sind, also die Zinsaufschläge für Frankreich nicht noch weiter steigen, liegt vor allem an der Hoffnung, die Europäische Zentralbank werde dann zweifelsfrei französische Staatsanleihen zur Stabilisierung aufkaufen", erklärt Heinemann. "Aber diese Hoffnung könnte trügen, denn die EZB muss aufpassen, dass sie ihre Glaubwürdigkeit an der Stelle nicht beschädigt."

Es ist ein altbekanntes Problem: Immer wenn gespart werden soll oder Reformen anstehen, schreien linke wie rechte Parteien in Frankreich Zeter und Mordio und mobilisieren ihre Anhänger. Schon für den 10. September, zwei Tage nach dem Misstrauensvotum im Parlament, haben die Gewerkschaften zum Generalstreik aufgerufen. Erinnerungen an die Gelbwesten werden lebendig, die im Herbst 2018 Frankreich lahm gelegt hatten. Auslöser damals: Die Erhöhung der Steuern auf Diesel und Benzin, mit der Präsident Macron die grüne Transformation voranbringen wollte.
EU-Kommission und EZB in der Zwickmühle"Die Europäische Kommission hat das Problem mit verschuldet. Sie hat bei Frankreich immer wieder ein Auge zugedrückt, auch beide Augen zugedrückt. Das waren politische Kompromisse aus Sorge, dass man sonst den Populisten Auftrieb gibt", bringt es Ökonom Heinemann auf den Punkt.
Schon jetzt muss Frankreich 67 Milliarden Euro im Jahr nur für seine Zinsen aufbringen - Geld, das an anderer Stelle fehlt. Und das Land ist unter Zugzwang, weil es sich gegenüber der EU zur schrittweisen Reduzierung seines hohen Defizits verpflichtet hat. Die Absprache mit der EU hat aber einen Haken: Sie wurde mit François Bayrou vereinbart, dem bislang amtierenden Regierungschef ohne Mehrheit.
"Jetzt haben wir das Problem: Frankreich hat einen großen Teil seines fiskalischen Spielraums schon aufgebraucht. Da ist Deutschland in einer viel besseren Situation und hat noch viel Spielraum. Frankreich dagegen nicht", sagt Heinemann.
Riesiger ReformstauFrankreich brauche genau wie Deutschland umfassende Sozialstaatsreformen und müsse die Staatsausgaben zurückfahren. Die Alternative wären Steuererhöhungen - in einem Land, das seinen Bürgern und Unternehmen schon jetzt sehr hohe Steuern abverlangt, so Heinemann.
Er ist beim Blick auf die Politik in Frankreich skeptisch, dass es zu einem parteienübergreifenden Konsens beim Abbau von Schulden und Staatsausgaben kommt: "Weil jetzt die Populisten links und rechts des Spektrums gewinnen, sehe ich das nicht. Ich sehe da keinen Lerneffekt, die Mitte schwindet dagegen dahin. Daher bin ich im Falle Frankreichs pessimistisch und sehe auch keine Lösung."
Für Andrew Kenningham, Chefvolkswirt für Europa beim Londoner Analysehaus Capital Economics, sind die Gefahren für die Finanzmärkte (noch) überschaubar. "Vorläufig scheinen sich die Probleme weitgehend auf Frankreich selbst zu beschränken, zumindest unter der Voraussetzung, dass das Ausmaß des französischen Problems nicht zu groß wird."
Allerdings gebe es plausible Szenarien, in denen es in Frankreich zu einer viel größeren Krise kommt und damit steige das Risiko, dass sich die Krise ausweitet. "Schließlich ist Frankreich die zweitgrößte Volkswirtschaft in der Eurozone mit bedeutenden Handels- und Finanzbeziehungen zu seinen Nachbarn und ist politisch eine führende EU-Macht", betont Kenningham. Eine Krise in Frankreich könnte damit die Lebensfähigkeit des gesamten "europäischen Projekts" in Frage stellen.

"Wir glauben nicht, dass eine Krise dieses Ausmaßes in den nächsten ein bis zwei Jahren zu erwarten ist. Aber wenn es dazu käme, könnte die Ansteckung zu einem viel größeren Risiko werden - und zwar eines, dem sich die EZB stellen müsste".
Kein gutes Omen für Handelsstreit mit den USADie Krise in Frankreich kommt zur Unzeit, denn die Handelsgespräche der EU mit den USA sind noch immer nicht ganz abgeschlossen. Etwa, wenn es um die Besteuerung von US-Tech-Konzernen durch einzelne Länder wie Frankreich geht. Es ist ziemlich schlechtes Timing, dass sich die EU ausgerechnet jetzt durch ihre zweitgrößte Volkswirtschaft schwächt, die praktisch unregierbar geworden ist.
"Frankreich hat ja ohnehin protektionistische Tendenzen, sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite des Spektrums. Da sind viele im Grunde in der Handelspolitik vollkommen mit Trump d'accord", unterstreicht Heinemann. Da denken viele: Wir brauchen mehr Protektion, höhere Zölle, wir sollten den europäischen Markt und am besten Frankreich noch viel stärker abschotten."
Für Heinemann sind viele Akteure in Frankreich regelrechte Trumpisten, besonders bei der politischen Linken und der politischen Rechten. "Die könnten den Druck auf die EU-Kommission erhöhen und auf Trumps Zölle jetzt mit europäischen Zöllen reagieren", gibt der Mannheimer Ökonom zu bedenken. "Dann wächst die Gefahr eines echten Handelskrieges."
dw