Lebensmittel: Ausgedrückt

Unvorhersehbares gibt es in der transparenten Lebensmittelwelt dieser Tage kaum noch. Auf den Kartoffelsäcken steht genau, für welche Zubereitungsarten die jeweilige Sorte geeignet ist, bei den Olivengläsern wird sicherheitshalber das Abtropfgewicht angegeben, und die Fischpackung warnt vor Gräten. Aber ein ganz spezielles Überraschungsei gibt es dann doch noch: die Avocado. Zwar ist auch sie oft mit Hinweisen wie „vorgereift“ oder „essreif“ ausgezeichnet, aber so ganz sicher kann man sich nicht sein. Gewissheit, ob sie noch zu hart ist oder doch schon zu weich, verspricht nur der Drucktest. Aber der beschädigt die Frucht, was sie wiederum unattraktiv macht. Die Messung des Ergebnisses also beeinträchtigt dieses, und auf einmal stehen die armen Kundinnen und Kunden vor einer philosophisch-physikalischen Herausforderung. Eben noch Preisvergleich im Chips-Regal, jetzt schon Heisenberg‘sche Unschärferelation.
Helfen sollen in Supermärkten aufgestellte Infrarot-Scanner, mit denen die Kunden die Avocados durchleuchten können. Innerhalb von Sekunden verrät das Gerät, ob die Frucht sich eher zum in Scheiben Schneiden eignet (Salat) oder zum Zerdrücken (Guacamole). Im Vereinigten Königreich sind die Scanner bei der Supermarktkette Tesco seit Wochenbeginn im Einsatz, in fünf der knapp 3000 Filialen. Ähnliche Vorstöße gibt es in diversen Ländern. In Deutschland sind solche Scanner bereits in ausgewählten Rewe- und Edeka-Märkten zu finden.
Der Import von Avocados nach Deutschland hat sich binnen zehn Jahren verfünffachtDen Avocado-Einkauf zu optimieren, ist vielen modernen Konsumentinnen und Konsumenten ein dringendes Anliegen. Die Frucht, die vorwiegend aus Mittel- und Südamerika stammt, hat vor allem in Europa an Beliebtheit gewonnen. Die Menge des Imports nach Deutschland hat sich innerhalb von zehn Jahren mehr als verfünffacht, auf knapp 157 800 Tonnen im Jahr 2023. Das Vereinigte Königreich führte 120 500 Tonnen ein. Allein Tesco verkaufte vergangenes Jahr fast 70 Millionen Avocados und damit 15 Millionen mehr als im Vorjahr.
Dass die Avocado so trendy ist, hat diverse Gründe. Sie schmeckt gut, der britische Koch Gordon Ramsay etwa lobt ihren „vollmundigen, phänomenalen“ Geschmack. Sie ist gesund, liefert Folsäure, Vitamine sowie Kalium und Kalzium, sie ist reich an ungesättigten Fettsäuren. Bei Empfängen als Häppchen gereicht eignet sich die Frucht auch als hervorragendes Smalltalk-Thema, sowohl für Zugreifende – „Wussten Sie, dass Avocados eigentlich Beeren sind?“ – als auch für dankend Ablehnende – „Fast 2000 Liter Wasser sind für die Produktion von einem Kilogramm Avocados nötig“. Für den Anbau von Tomaten wird nur ein Zehntel an Wasser gebraucht. Umweltorganisationen kritisieren zudem, dass für die wachsenden Anbauflächen Wälder abgeholzt werden und die großen Konzerne das Geschäft der Kleinbauern ruinieren.
Nicht zuletzt müssen sehr viele angequetschte Früchte von den Supermärkten weggeworfen werden. Das will One Third verhindern. So heißt die 2019 im niederländischen Enschede gegründete Firma, die diese Scanner herstellt. Ihr Name – ein Drittel – bezieht sich auf den Anteil der weltweit hergestellten Lebensmittel, die im Müll landen. Zumindest den unter Druck geratenen Avocados soll dieses Schicksal künftig erspart bleiben.
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