Zum zweiten Schweizer EM-Gegner: Auf Island dominieren die Frauen – und sind die Fans den Stars besonders nah


Vor einem Jahr herrschte Feierstimmung in Islands Frauenfussball. Mit drei Siegen zum Abschluss der EM-Qualifikation, unter anderem einem 3:0 gegen das scheinbare übermächtige Deutschland, qualifizierte sich das Nationalteam für die Endrunde, es setzte sich in der Ausscheidung deutlich vor Österreich und Polen durch.
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Island liegt in der Weltrangliste an Position 14 und ist damit die am besten klassierte Equipe in seiner EM-Gruppe. Doch zum Auftakt am letzten Mittwoch gab es eine Enttäuschung: eine 0:1-Niederlage gegen Finnland, das am tiefsten eingestufte Team der Gruppe. Die Isländerinnen verloren zur Pause ihre angeschlagene Abwehrchefin und Captain Glodis Viggosdottir von Bayern München und in der zweiten Halbzeit die in Madrid beschäftigte Hildur Antonsdottir durch einen Platzverweis.
Ganz überraschend kam das Unheil nicht. Die Isländerinnen waren im Vorfeld der EM zehn Partien lang ohne einen einzigen Sieg geblieben, in der Nations League gegen die Schweiz gab es zwei Unentschieden.
«Huh»-Rufe und Klatschrituale im Wikinger-StilIslands Frauen sind bereits zum fünften Mal in Folge an der EM dabei, was beachtlich ist für ein Land mit knapp 400 000 Einwohnern. Der Service-public-Kanal RUV richtet entsprechend gross an und zeigt sämtliche EM-Partien live und mit Studioanalysen. Die Experten des Senders und andere isländische Medien hielten es vor Turnierbeginn für durchaus realistisch, dass ihre Auswahl weiterkommt.
«Das Land ist stolz auf dieses Team», sagt Vidar Halldorsson, Soziologieprofessor an der Universität Reykjavik, der sich mit Sport befasst. Die EM sei im Volk ein wichtiges Gesprächsthema, und wenn das Nationalteam ein gutes Turnier spiele und wie gewohnt mit vollem Einsatz kämpfe, «werden auch jene mitfiebern, die sich gar nicht für Fussball interessieren».
Vor dem EM-Start war die Begeisterung auf der Insel noch etwas verhalten gewesen. Viele befanden sich in den Sommerferien im südlicheren Europa – aber nicht wenige reisten an die EM in die Schweiz. Die dem Verband zugeteilten EM-Tickets gingen weg wie warme Brötchen, so dass die Uefa das isländische Kontingent erhöhte. Bereits an früheren Turnieren waren die isländischen Fans zahlreich erschienen, und man darf für die kommenden Spiele in Thun und Bern ebenfalls «Huh»-Rufe und Klatschrituale im Wikinger-Stil erwarten.
In Island selbst ist die Planung von Public Viewings rollend, auch wegen des unbeständigen Sommerwetters. Im Kino «Paradis» in Reykjavik werden Spiele auf Leinwand gezeigt, und diverse Bars haben sich auf Grossandrang eingerichtet.
Alessandra Tarantino / AP
Im Fussball sind Islands Frauen erfolgreicher als die Männer, die in der Weltrangliste nur noch Platz 74 belegen. Die Frauen schafften es 2009 erstmals an eine EM-Endrunde, sieben Jahre vor den Männern. 2013 erreichten die Frauen die Viertelfinals, drei Jahre bevor dies den Männern mit dem sensationellen Sieg gegen England gelang.
Damals, 2016, war die Nation buchstäblich aus dem Häuschen, die blau-weissen Trikots waren ausverkauft, viele reisten spontan zum Viertelfinal gegen Frankreich nach Paris (2:5). Der Soziologe Halldorsson erwartet aber keine solchen Zustände für die nächsten Tage, selbst wenn es den Isländerinnen sportlich gut laufen sollte: «So weit ist der Frauenfussball auch in Island noch nicht.» Auf der Insel ist im Fussball wie in vielen anderen Nationen eine «männlich geprägte Hegemonie» zu beobachten, obwohl Island laut dem «Global Gender Gap Report» des Weltwirtschaftsforums seit sechzehn Jahren das Land mit der weltweit höchsten Gleichstellung der Geschlechter ist.
Island hat eine Präsidentin, eine Regierungschefin, eine oberste Bischöfin, eine höchste Polizeichefin – und hatte bis 2024 eine Präsidentin im Fussballverband. Aber Gleichstellung braucht Zeit, etwa in Bezug auf die Löhne, da ist sie trotz gesetzlichen Vorgaben nicht vollständig erreicht. Auch in Island gibt es Frauenstreiktage. Immerhin: Die Prämien für die beiden Fussball-Nationalteams wurden 2018 angeglichen.
Grosse Hallen fürs GanzjahrestrainingDer Kampf des Frauenfussballs für bessere Bedingungen habe in Island in den letzten Jahren Früchte getragen, sagt Halldorsson. Im Fernsehen werden heute die Spiele der beiden höchsten – semiprofessionellen – Ligen von Männern wie Frauen übertragen. Seit 2018 wurde drei Mal eine Fussballerin zur isländischen Sportperson des Jahres erkoren; ein Fussballer wurde seitdem bei dieser Wahl nie ausgezeichnet.
Island ist in der Breite sehr stark aufgestellt. Das Land hat laut einer Fifa-Erhebung von 2023 fast den höchsten Frauenanteil bei den registrierten Spielerinnen und Spielern; nur auf den Färöern, den Cook-Inseln und in Tonga lag er höher. Ein Drittel aller Lizenzierten sind weiblich, und sie profitieren von den strukturellen Stärken, die Islands Fussball insgesamt erfolgreich machen: hervorragende Infrastruktur mit Kunstrasenfeldern und grossen Hallen fürs Ganzjahrestraining. Die Trainer, auch im Nachwuchs, sind nicht einfach Freiwillige oder Eltern, sondern benötigen eine Uefa-Lizenz.
Ein zentrales Element ist das Prinzip «Sport für alle»: ein hochangesehenes Nachwuchssystem, das bewusst auf Eliteförderung verzichtet und darauf ausgelegt ist, die lokale Jugend, Mädchen wie Buben, möglichst stark in den Sport einzubeziehen. Islands Frauen-Nationaltrainer Thorsteinn Halldorsson sagte einmal: «Du kannst bis 19 in deinem Team sein und wirst nicht aussortiert.»
Das Konzept wird als positiv fürs soziale Gefüge und den Teamgeist angesehen und ist laut Studien erfolgreich als Gesundheitsstrategie für die Jugend. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die besten Talente oft als Teenager ins Ausland wechseln müssen, um bessere Aussichten auf eine Profikarriere zu haben. Von den Fussballerinnen aus dem EM-Kader spielt nur gut ein Viertel in Island.
Ein Vorteil ist, dass sich in einem bevölkerungsarmen Land wie Island schnell eine nationale Euphorie entfachen lässt. Der Soziologe Halldorsson sagt, man kenne rasch über zwei Ecken jemanden aus der Familie einer Spielerin oder eines Physiotherapeuten. Und so fühle sich die Nation mit ihren Fussballstars eng verbunden.
nzz.ch