Marc-André ter Stegen: Deutschlands traurigste Nummer eins

Mit zwei Buchstaben titelte die in Barcelona ansässige Tageszeitung „Sport“ vor wenigen Tagen: „KO“. Darüber stand „TER STEGEN“. Auf dem Bild zu sehen war der deutsche Fußball-Nationaltorhüter, Marc-André ter Stegen, im Profil, mit leerem Blick. Zukunft: ungewiss.
Diese Titelseite beschreibt die Gemütslage des 33-Jährigen treffend. Besonders, wenn man Ann-Katrin Berger (34), die deutsche Torfrau bei der Europameisterschaft, gegenüberstellt. Nach ihrer Glanzparade und der Leistung im Viertelfinale gegen Frankreich (6:5 nach Elfmeterschießen) wird sie gefeiert. Berger ist die Heldin, ter Stegen die tragische Figur.
Es ist die traurige Geschichte eines Profis, dessen Karriere immer die schlecht möglichste Abbiegung nimmt, wenn sein Lebenstraum naht: als Nummer eins mit dem Nationalteam ein großes Turnier zu bestreiten.
44 Länderspiele absolvierte ter Stegen seit 2012. Einsätze bei vier Europa- und Weltmeisterschaften: null. Und nun, wo der Weg frei scheint für die WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko, erlebt er beim FC Barcelona, seit elf Jahren seine Heimat, eine finale Demütigung. Sie passt in das Bild des ewig Enttäuschten – und zeigt, wie brutal der Profifußball sein kann.
Ein Wechsel muss her, etwa zu einem der Europapokalteilnehmer Galatasaray Istanbul in die Türkei oder zur AS Monaco nach Frankreich. Erste Offerten gibt es. Findet er keinen Verein, verliert ter Stegen den Status als Deutschlands Nummer eins für die WM. Denn das kann nur ein Stammkeeper mit Spielpraxis sein.
Einer der Protagonisten des Dramas, der Einfluss auf Gegenwart und Zukunft des Torwarts nimmt, weiß das nur zu gut: Hansi Flick, ter Stegens ehemaliger Trainer bei der DFB-Elf und seit vergangenem Sommer bei Barça.
Flick setzt nicht mehr auf den Mann, vor zwei Jahren zum Kapitän ernannt, der sich bei den Fans des Weltklubs Kultstatus erwarb, sechs Meisterschaften, ebenso viele spanische Pokale und die Champions League gewann. Die Posse wird der Beziehung, die seit 2014, als ter Stegen von seinem Jugendverein Borussia Mönchengladbach zu den Katalanen kam, so erfolgreich war, nicht gerecht.
Nur: Der Coach des spanischen Meisters bewertet keine Verdienste aus der Zeit vor seinem Amtsantritt.

Vom Chef geschasst: Barcelonas Trainer Hansi Flick (links) und Marc-André ter Stegen vor dessen Verletzung im September 2024.
Quelle: IMAGO/ZUMA Press Wire
Die Zukunft zwischen den Pfosten sieht Flick wie die Kluboberen, Sportdirektor Deco und Präsident Joan Laporta, in Joan Garcia, 24 Jahre alt, für 25 Millionen Euro vom Stadtrivalen Espanyol verpflichtet. Garcia ist Spaniens Torwarthoffnung. Mit ihm will der FC Barcelona wieder internationale Titel holen. Der Glaube daran, sie mit ter Stegen zu gewinnen, fehlt Flick und Co. augenscheinlich.
Ein Grund dafür: der Patellasehnenriss aus dem vergangenen September.
Fraglos ter Stegens schwerste Verletzung, nachdem ihn seit Jahren schon Knieprobleme sowie Rückenbeschwerden (inklusive Operation) geplagt hatten.
Besonders schmerzvoll: Die Sehne riss, als der Torwart im Anschluss an die Heim-EM Manuel Neuer beerben durfte. Es unterstreicht die Tragik, die ihm als Profifußballer bei der Nationalelf widerfährt.
Schon die Premiere vor 13 Jahren missglückte. Beim 3:5 im Spiel gegen die Schweiz kassierte ter Stegen die meisten Gegentore eines DFB-Debütanten seit 1954. Sein nächster Einsatz für Deutschland folgte im August 2012: drei Gegentore gegen Argentinien, wo er nach Rot für Bernd Leno in die Partie kam.

Die Schrecksekunde: Marc-André ter Stegen unterläuft beim Testspiel in den USA ein Eigentor.
Quelle: imago sportfotodienst
Den vorläufigen Tiefpunkt erreichte seine Anfangszeit im Nationaltrikot während einer US-Reise im Juni 2013; beim 3:4 im Duell mit den USA rollte der Ball nach einem harmlosen Rückpass an seinem Fuß vorbei über die Linie.
So lautete die Schreckensbilanz nach drei Länderspielen: kein Sieg, zwölf Gegentore.
Vor der WM 2014 erfuhr ter Stegen dann von Joachim Löw, dass es nicht zur Nominierung reichen würde. Neben Neuer reisten Roman Weidenfeller und Ron-Robert Zieler nach Brasilien; beide dürfen sich (ohne Spielminute beim deutschen Triumph) als Weltmeister bezeichnen. Ter Stegen nicht. Er musste warten.
„Natürlich ist man traurig, wenn man ein solches Großereignis verpasst“, sagte der damals junge Torwart. Seinerzeit durfte er annehmen, dass er nur die erste Chance verpasst hatte und viele Turniere folgen würden. Er nutzte den Ausdruck, den er später häufiger verwenden sollte: die Entscheidung müsse man „respektieren“.
Marc-André ter Stegen vor der EM 2024
Löw nominierte ter Stegen zwei Jahre danach als Ersatzkeeper für die EM. Wieder stand die Berufung unter keinem guten Stern. Im Duell um den Platz hinter Neuer mit Intimfeind Leno, zu dem das Verhältnis seit gemeinsamen Zeiten im Jugendnationalteam angespannt ist, patzte ter Stegen gegen die Slowakei (1:3). So ging es als Nummer drei nach Frankreich.
Ein schönes Kapitel erlebte ter Stegen 2017 beim letzten Titelgewinn Deutschlands, dem Confed Cup, dem Vorbereitungsturnier für die WM. Es ist mehr als eine Randnotiz in seiner Vita, dennoch ein Triumph nachgelagerten Werts, der mit einer Mannschaft gelang, die weniger aus Stamm- denn aus Ersatzkräften bestand. Es folgte das Vorrunden-Aus bei der WM in Russland. Wieder hatte Löw auf Neuer gesetzt. Wieder sagte ter Stegen zähneknirschend, er „akzeptiere und respektiere“ die Entscheidung.
Dann begann die Verletzungsodyssee des Hochtalentierten, wodurch er die EM 2021 verpasste. Wegen Corona war das Turnier um ein Jahr verschoben worden. Ausgerechnet in jenem Sommer fand es statt, als ter Stegen wegen einer Knie-OP ausfiel.
Vor der WM-Blamage in Katar fiel ein Duell ums deutsche Tor aus. Flick als Bundestrainer sowie Torwartcoach Andreas Kronenberg fanden es „nicht förderlich“, einen „offenen Zweikampf“ auszurufen. Nach dem Turnier zog sich der König im deutschen Tor einen Beinbruch zu, der Kronprinz rückte auf, ehe Flick im September 2023 vom DFB vor die Tür gesetzt wurde.
Einzug ins EM-Halbfinale: Die DFB-Frauen gewinnen in Unterzahl und nach Elfmeterschießen gegen Frankreich. RND-Reporter Roman Gerth berichtet aus der Schweiz.
Quelle: Roman Gerth; Musik: Music by Mykola Sosin from Pixabay; Reuters
Julian Nagelsmann, einst schon Flicks Nachfolger beim FC Bayern München, schenkte ter Stegen das Vertrauen – bis März 2024, als Neuer von der Verletzung zurückkam und sich Nagelsmann auf den Münchner als Stammtorwart für die Heim-EM festlegte. Direkt danach zog sich der langjährige Kapitän der DFB-Elf einen Muskelfaserriss zu. Die Blessur war kurz vor dem Turnier auskuriert, ter Stegen blieb wieder die Zuschauerrolle.
Die Abfuhr vor seinem vierten Turnier schmerzte ihn mehr als je zuvor. Nagelsmanns Entscheidung „war schon ein Schlag ins Gesicht für mich“, gab er in einer ZDF-Doku zu. All das sei „überraschend“ für ihn gekommen. „Vor allem der Tag danach ist so, dass du irgendwo auch zusammensackst.“
Im Juli 2025, vor seiner zwölften Saison mit dem FC Barcelona, ein Jahr vor dem Premierenturnier als Deutschlands Nummer eins, erlebt ter Stegen die größte aller Herabwürdigungen seiner Karriere: Der Verein, in dem er zur Institution geworden ist, setzt auf junges Blut.
Marc-André ter Stegen nach seiner Degradierung vor der EM 2024
Der deutsche Torhüter kennt das – aus anderer Perspektive. 2016 flüchtete sein damaliger Konkurrent, der Chilene Claudio Bravo, zu Manchester City. Nun erfährt der Routinier selbst, wie es ist, nicht mehr gebraucht zu werden. Er ist nur noch Flicks Nummer drei, hinter Garcia und dem wegen ter Stegens Verletzung reaktivierten Polen Wojciech Szczesny (35).
Ein Zeichen dafür, dass man in Barcelona zweifelt, ob ter Stegen nach dem Patellasehnenriss zu seiner vollen Leistungsfähigkeit zurückkehrt. Ein angesehener Sportmediziner, der Nationalspieler und Olympiateilnehmerinnen betreut, sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), dass nur eine massive Vorschädigung des Knies zum Patellasehnenriss führen könne. Die Rückkehr nach einem Dreivierteljahr sei keine Garantie für eine andauernde Genesung.
Erschwerend kommt hinzu, dass ter Stegen mit einem kolportierten Gehalt von 16 Millionen Euro viel Geld verdient und der Traditionsklub mit 1,2 Milliarden Euro verschuldet ist. Bei Barça lautet daher die kostengünstigere Devise: alles auf Zukunft, alles auf Garcia, dazu Szczesny als erfahrener Ersatz, aber kein ter Stegen.
Der Aussortierte „respektiert und akzeptiert“ die Entscheidung dieses Mal offenbar nicht. Während seiner Zeit in der Reha machte ter Stegen Druck, forderte einen Stammplatz. Flick und dessen Vorgesetzten soll das übel aufgestoßen sein. In der Gunst des katalanischen Anhangs, der den Ex-Kapitän lange verehrte, scheint ter Stegen ebenfalls gesunken zu sein, dort begrüßte man die Verpflichtung Garcias sogar.

Frisch getrennt: Marc-André und Daniela ter Stegen haben zwei gemeinsame Söhne.
Quelle: IMAGO/ABACAPRESS
Abseits des Rasens beschäftigt ihn die Trennung von Ehefrau Daniela, mit der er seit 2017 verheiratet ist. Die beiden haben zwei Söhne, was den Fußballprofi auch privat an Barcelona bindet. Er macht kein Geheimnis daraus, wie wichtig ihm die Nähe zu seinen Kindern ist.
Ter Stegens Beziehungsstatus ist auf allen Ebenen kompliziert. Da wirkt es wie Ironie des Schicksals, dass ihm in der DFB-Elf gerade die größte Liebe widerfährt. Bei den Niederlagen gegen Portugal und Frankreich in der Nations-League-Endrunde machte ter Stegen, der sich Nagelsmanns Vertrauen stets sicher sein konnte („Er wird die Nummer eins sein“), viel Eigenwerbung für sich.

Grillen auf riesigen Parkplätzen, Hitze und Gewitter als Dauer-Themen, und Donald Trump beim Finale - eine Bilanz zum Ende der Klub-WM.
Kurz vorher hatte es angefangen, in Barcelona zu rumoren. Da positionierte sich Nagelsmann, der seinen Fokus längst auf die WM 2026 ausgerichtet hat. „Ich wünsche mir aufgrund der Vergangenheit der Protagonisten, dass er eine Info erhält, wie es da weitergeht“, sagte der aktuelle Bundestrainer in Richtung seines Vorgängers. Die Info kam – es war die finale Degradierung.
Als Ersatz vom Ersatz beim aktuellen Arbeitgeber, an den er vertraglich noch drei Jahre gebunden ist, kann ter Stegen seinen Stammplatz im deutschen Nationalteam nicht verteidigen.
Momentan trainiert Deutschlands traurigste Nummer eins allein, fernab der Teamkollegen, im Kraftraum des Vereins. Es plagen ihn offenbar erneut Rückenschmerzen, eine OP soll anstehen. Vom Klub kam bislang keine offizielle Mitteilung. „KO“ in Barcelona.
Um Gleiches im Nationalteam zu verhindern und seinen Einsatz bei der WM 2026 zu retten, hilft nur ein Neuanfang.
rnd