Die amerikanische Sprintkönigin wird kurz vor den Trials verhaftet – und vergibt die WM-Qualifikation über 200 Meter


Auf der Bahn sprühen Sprinterinnen vor Energie. Sha’Carri Richardson ist eine dieser Frauen, sie gehört zu den schnellsten der Welt, 10,65 Sekunden braucht sie für 100 Meter – die fünftschnellste Zeit der Geschichte. Richardson, 25 Jahre alt, wurde 2023 in Budapest Weltmeisterin über 100 Meter. Im vergangenen Sommer in Paris gewann sie an den Olympischen Spielen in der Königsdisziplin der Leichtathletik die Silbermedaille – mit der amerikanischen Staffel wurde sie sogar Olympiasiegerin.
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Ende September finden die Weltmeisterschaften in Tokio statt, über 100 Meter hat Richardson als Titelverteidigerin einen gesicherten Startplatz. Über 200 Meter wird sie allerdings fehlen, weil sie an den US Trials schon im Vorlauf scheiterte. Eine Hundertstelsekunde fehlte für den Einzug in die nächste Runde. Nach dem Rennen weigerte sich Richardson, mit den wartenden Medienschaffenden zu reden, wünschte ihnen lediglich einen «gesegneten Tag». Ein Grund für diesen wortkargen Auftritt und die überraschende Niederlage dürfte sein, dass die Weltklasse-Sprinterin wenige Tage vor dem Rennen festgenommen worden ist.
Die NZZ verglich Richardsons Laufstil einst mit einer «wild gewordenen Nähmaschine». Die 1 Meter 55 grosse Frau sprintet mit einer unglaublichen Kadenz; ihre Auftritte sind schrill, laut, auffällig. Sie trägt zahlreiche Tattoos, hat lange, bunt bemalte Fingernägel und zeigt sich in den Stadien der Welt oft mit farbigen Perücken in wechselnden Frisuren.
Knallt der Startschuss, explodiert Richardson – und auch abseits der Bahn scheint sie diese Energie zu entfesseln. Anfang vergangener Woche reiste sie zusammen mit ihrem Partner Christian Coleman, 2019 Weltmeister über 100 Meter, via Seattle an die US Trials für die WM in Tokio.
Doch schon während der Sicherheitskontrolle geriet das Paar in einen heftigen und lautstarken Streit. Bilder der Überwachungskameras zeigen, wie Coleman davonlief, während Richardson ihm folgte, ihn gegen eine Säule schubste, mit Gegenständen bewarf und anschrie. Die Polizei taxierte Richardsons Attacken als derart schwerwiegend, dass sie sie wegen «häuslicher Gewalt» festnahm. Sie verbrachte 19 Stunden in der South Correctional Entity, einem Gefängnis nahe Seattle, bevor sie wenige Tage vor ihrem Start bei den Trials freikam. Der Vorfall trug sich schon letzte Woche zu, wurde aber erst am Sonntag öffentlich.
Richardson sorgte nicht zum ersten Mal für Schlagzeilen ausserhalb der Leichtathletikbahn. Vor zwei Jahren spedierte American Airlines sie aus dem Flugzeug. Richardson wollte vor dem Start unbedingt einen Videoanruf zu Ende führen. Ein Flugbegleiter forderte sie auf, das Telefonat sofort zu beenden, und verlangte ihr Handy, um zu kontrollieren, ob der Flugmodus eingeschaltet war. Daraufhin eskalierte die Situation. Richardson lieferte sich einen lautstarken Streit mit der Crew, filmte den Zwischenfall – und durfte nicht mitfliegen.
Richardson hätte schon 2021 bei den Olympischen Spielen in Tokio antreten sollen. Die damals 21-Jährige hatte die Olympiaausscheidung dominiert, galt als Shootingstar und Medaillenhoffnung der amerikanischen Leichtathletik. Doch die Antidopingbehörde sperrte sie kurz vor den Spielen, Richardson war der Konsum von Marihuana nachgewiesen worden. Die Sportlerin räumte Fehler ein und sagte, sie habe nach dem Tod ihrer Mutter einen Joint geraucht.
Coleman verzichtet auf eine AnzeigeDurch den Dopingfall wurden die Umstände bekannt, in denen die Athletin aufgewachsen war. Die Mutter liess sie früh im Stich, die Grossmutter und eine Tante zogen Richardson gross. Dort habe es ihr zwar an nichts gefehlt, während der Highschool habe sie aber psychische Probleme wegen der fehlenden Bindung zur Mutter bekommen. Die Kindheit und Jugend in einer mehrheitlich schwarzen Community in Dallas hätten sie jedoch stark gemacht, sagte Richardson später. Sie wies obendrein darauf hin, dass schwarze Menschen und vor allem schwarze Frauen noch immer benachteiligt seien.
Wie der Dopingfall dürfte auch die Affäre um den Vorwurf häuslicher Gewalt glimpflich ausgehen. Nach der Freilassung am Montag der letzten Woche startete Richardson zu Trainingszwecken über 100 Meter an den Trials. Es war ihr erster Auftritt in dieser Saison. Danach zog sie sich aus dem Wettkampf zurück – wegen des gesicherten Startplatzes an den WM. Richardson sagte nach ihrem Vorlauf: «Im Moment fliege ich noch unter dem Radar. Aber wenn es ernst gilt, wird es einen Knall geben.» Die Verhaftung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht öffentlich bekannt.
Den jüngsten «Knall» am Flughafen nimmt ihr zumindest ihr Partner Coleman nicht übel. Er gilt als zurückhaltender Typ, wirkt während Pressekonferenzen scheu – ganz anders als Richardson. Coleman sagte gegenüber Reuters über seine Freundin: «Sie ist eine grossartige Person.» Er werde auf eine Anzeige verzichten und sehe sich keineswegs als Opfer. «Ich war überrascht, dass sie verhaftet wurde. Schliesslich streiten sich alle Menschen manchmal und zeigen Emotionen.» Für ihn sei seine Freundin eine der besten Athletinnen der Welt.
Coleman wird in Tokio nicht starten, da er die Qualifikationsnormen über 100 und 200 Meter verfehlte. Richardson hingegen wird über 100 Meter für Wirbel sorgen – auf der Bahn.
nzz.ch