Der älteste Marathonläufer der Welt stirbt mit 114 Jahren – Fauja Singh verzichtete auf Alkohol und ass jeden Abend Ingwer-Curry


Am 16. Oktober 2011 erreichte Fauja Singh nach acht Stunden und elf Minuten das Ziel des Toronto Waterfront Marathon. Weit hinter dem Sieger, dem Kenyaner Kenneth Mburu Mungara, der nach etwas mehr als zwei Stunden die Ziellinie überquerte. Doch die beiden trennte nicht bloss die Zeit. Sondern fast ein ganzes Leben.
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Hier Mungara, 38 Jahre alt und Profi. Dort Singh, 100 Jahre alt und Amateur. Und deshalb schrieb an diesem Tag nicht der Sieger Geschichte, sondern der Mann, der mit 100 Jahren erstmals einen Marathon beendete. Und die Geschichte von Faujah Singh ist ohnehin besser als jede Bestzeit.
Seit jenem Herbsttag im Jahr 2011 gilt Singh als ältester Marathonläufer der Welt. Dass er im hohen Alter überhaupt noch zum Langstreckenläufer wurde, hatte einen tragischen Grund: Singh begann mit dem Laufen, um seine Trauer zu überwinden.
Der Tod seiner Liebsten stürzte ihn in eine DepressionIn den 1990er Jahren verlor er zuerst seine Frau und wenig später einen seiner Söhne. Kuldip Singh starb 1994 direkt vor Faujas Augen, enthauptet von einem durch den Wind verwehten Blechstück. Vater und Sohn waren Bauern und hatten gerade ihr Feld kontrolliert. Singh, dessen fünf andere Kinder ausgewandert waren, war plötzlich allein. Er stürzte in eine tiefe Krise, fühlte sich «mehr tot als lebendig» und zog darum zu seinem jüngsten Sohn nach London.
Dort nahm er an Sportveranstaltungen der Sikh-Gemeinde teil. Und dort gab es Marathonläufer. Sie überredeten ihn dazu, sich ebenfalls auf Langstrecken zu versuchen. Eines Tages sah Singh einen Marathon im Fernsehen – und legte sich auf diesen Sport fest. «Als ich mit dem Laufen anfing, war es, als hätte ich Gott persönlich getroffen. Seitdem laufe ich», sagte er 2013 in einem Interview mit CNN.
Mit 89 Jahren lief Singh seinen ersten Marathon. Das war im Jahr 2000 in London. Er kam nach 6 Stunden und 54 Minuten ins Ziel und unterbot den bisherigen Rekord in seiner Altersklasse damit um fast eine Stunde. Acht weitere Marathons folgten. Mit seinem Turban und seinem langen Bart wurde Singh zu einem ebenso willkommenen wie auffälligen Teilnehmer an diversen Laufveranstaltungen weltweit.
Als Kind hatte er schwache und dünne BeineSeine Bestzeit stellte er mit 92 Jahren in Toronto auf. Er legte die Strecke in der kanadischen Metropole in 5 Stunden und 40 Minuten zurück. Doch wie konnte er in so hohem Alter noch solche Laufstrecken zurücklegen?
Singh behauptete stets, sein Körper sei erstaunlich gesund geblieben. Laut eigener Aussage spürte er selbst im hohen Alter kaum körperlichen Verfall. Mit 94 Jahren liess er sich testen. Dabei hätten die Ärzte festgestellt, dass sein linkes Bein die Knochendichte eines 35-Jährigen hatte, sein rechtes die eines 25-Jährigen.
Besonders war das, weil Singh als Kind körperlich schwach war. Seine Familie hielt ihn gar für behindert. Seine Beine waren dünn, das Gehen fiel ihm schwer. Erst im Alter von fünf Jahren konnte er richtig laufen, mit zehn ein normales Leben führen. «In meiner Jugend wusste ich nicht einmal, dass das Wort ‹Marathon› existiert», sagte er einst der BBC.
Die Ernährung spielte in seinem Leben eine wichtige Rolle. Singh lebte vegetarisch, trank täglich eine Tasse Tee, ass jeden Abend Ingwer-Curry. Er liebte «Laddu», eine indische Süssigkeit aus geronnener Milch. Auf Alkohol und Rauchen verzichtete er. Und er legte grossen Wert auf Ruhe: «Das Geheimnis für ein hohes Alter ist ein stressfreies Leben.»
Werbekampagne mit David Beckham und Zinedine ZidaneSeinen letzten Lauf absolvierte Singh 2013 in Hongkong, als er sich im 101. Rang klassierte. Dabei handelte es sich um keinen Marathon, sondern um einen Zehn-Kilometer-Lauf. Singh absolvierte die Strecke in einer Stunde, 32 Minuten und 28 Sekunden. «Ich bin froh, auf dem Höhepunkt meiner Karriere aufzuhören», sagte er damals mit einem Augenzwinkern.
In all den Jahren als Läufer ist Singh zu einer internationalen Bekanntheit geworden. Er trug das olympische Feuer 2004 in Athen und 2012 in London, drehte neben David Beckham und Zinedine Zidane eine Werbekampagne für Adidas. «Das Laufen hat mir Güte gezeigt und mich wieder zum Leben erweckt, indem es mich alle meine Traumata und Sorgen vergessen liess», sagte er CNN.
Doch ins «Guinness-Buch der Rekorde» schaffte es Singh nie. Guinness World Records verweigerte ihm den Titel als ältester Marathonläufer der Geschichte. Weshalb? Singh wurde laut eigenen Angaben am 1. April 1911 geboren. Doch er verfügte über keine Geburtsurkunde, solche Dokumente wurden damals noch nicht ausgestellt in Indien. Und so konnte er zeit seines Lebens lediglich einen Reisepass vorweisen. Den Verantwortlichen genügte das jedoch nicht. «So gern wir diesen Rekord auch bestätigen würden, uns fehlen schlicht die Beweise», erklärte Craig Glenday, der Chefredaktor von Guinness World Records, damals.
Beim Überqueren der Strasse angefahrenDer fehlende Eintrag im Rekordbuch war Singh egal. Wichtiger war ihm seine eigene Geschichte: «Aus einer Tragödie sind viel Erfolg und Glück entstanden», zitierte ihn die BBC nach dem letzten Lauf seiner Karriere. Nun ist diese Geschichte zu Ende.
Am Montag ist Fauja Singh bei einem Verkehrsunfall in Indien ums Leben gekommen. Er wurde im Dorf Bias im Bundesstaat Punjab von einem Fahrzeug angefahren, als er die Strasse überqueren wollte. Der Fahrer des Wagens flüchtete.
Singh kam mit schweren Kopfverletzungen ins Spital und erlag dort seinen Verletzungen. Sein Laufklub in London, «Sikhs In The City», bestätigte den Tod. Indiens Premierminister Narendra Modi würdigte ihn als «Ausnahmesportler mit unglaublicher Entschlossenheit».
Fauja Singh Ji was extraordinary because of his unique persona and the manner in which he inspired the youth of India on a very important topic of fitness. He was an exceptional athlete with incredible determination. Pained by his passing away. My thoughts are with his family and…
— Narendra Modi (@narendramodi) July 15, 2025
Diese Entschlossenheit brachte ihm mehrere Übernamen ein. Einige nannten ihn «Turbo-Turban», andere bezeichneten ihn als «Sikh-Superman» oder «Running Baba». Die Sportwelt feierte ihn als Lauflegende.
Doch für die meisten bleibt er einfach der Mann, der mit über 100 Jahren noch Marathonläufe absolvierte. Glaubt man seinen Dokumenten, wurde Fauja Singh 114 Jahre alt.
nzz.ch