Geben Sie Wein aus der Schweiz eine Chance!

Die Schweiz verfügt über einen Fundus alter Rebsorten. Unser Kolumnist findet: Würde die weintrinkende Welt diese kennen, wären sie ähnlich populär wie Schweizer Käse, Schokoladen oder Uhren.
Weiß-, Grau- und Spätburgunder, Riesling, Sauvignon Blanc, Chardonnay, Merlot . . . – wie viele Rebsorten gibt es wohl auf der Welt, was glauben Sie? So viele, wie diese Kolumne Buchstaben hat? Oder die Anzahl kluger Artikel mal zehn? José Vouillamoz, Experte für die Herkunft und Abstammung von Rebsorten mittels DNA-Profiling, schätzt, dass es „zwischen 5000 und 10.000 Sorten“ sind, die heute angebaut werden. Eine erstaunliche Zahl. Aber sicher, nicht alle Sorten werden für die Weinherstellung kultiviert.
Für das Standard-Nachschlagewerk „Wine Grapes“ jedenfalls, das Vouillamoz gemeinsam mit den britischen Masters of Wine, Jancis Robinson und Julia Harding, verfasst hat, wurden weltweit 1368 Sorten gezählt, die für die kommerzielle Weinherstellung angebaut werden. Und in der Schweiz werden auf etwa 15.000 Hektar mindestens 262 davon kultiviert. Immerhin 168 Sorten sind in den Ursprungsbezeichnungen (Appellation d’Origine Contrôlée, kurz: AOC) des Landes zugelassen, zwischen 12 bis 85 Sorten pro Kanton. Das ist kein schlechter Wert für ein Land, das nur 0,2 Prozent der weltweiten Anbaufläche für Weinreben stellt.

Nun könnte als Kehrseite dieser enormen Vielfalt benannt werden, dass der Schweizer Wein keine Identität besitze wie etwa der Barolo (Rebsorte: Nebbiolo) fürs Piemont, der Cabernet Sauvignon für Kaliforniens Napa Valley oder der Riesling für Deutschland. Den „typischen“ Schweizer Wein gibt es nicht. Vouillamoz, der zu unserem letzten gemeinsamen Dinner im Wallis mit einem großen Koffer voller teils über Jahrzehnte gereifter Schweizer Weine an die Tafel kam, erklärt, warum das so ist: „In der Schweiz lassen sich drei Kategorien von Rebsorten unterscheiden: einheimische Sorten, die vermutlich hier entstanden sind; traditionelle Sorten, die vor 1900 vorhanden waren; und allogene Sorten, die seit 1900 eingeführt wurden.“ 80 Varietäten, so Vouillamoz, sind autochthon und 21 spontanen Ursprungs. 23 Sorten sind traditionell, während 152 der in der Schweiz angebauten Rebsorten allogen sind.
Aus seinem Koffer zog der Wissenschaftler dann einen Weltklassewein nach dem anderen heraus und servierte alle mit verdecktem Etikett. Würde die weintrinkende Welt diese Erzeugnisse kennen, denke ich, dürfte sie sich darum bemühen wie um Schweizer Käse, Schokoladen, Uhren oder Taschenmesser. Allein, die Produktionsmenge ist in der Regel gering, und der Exportanteil der Schweizer Weine liegt stabil bei etwa einem Prozent. Damit lässt sich nicht die Welt erobern. „Müssen wir auch nicht, denn die Welt ist ja bei uns zu Gast“, sagte mir der Graubündner Winzer Martin Donatsch einmal. Hinzu kommt, dass die Schweizer gern Weine auf höchstem Niveau trinken. Und da sie auch noch Lokalpatrioten sind, beginnen sie damit gleich vor der Haustüre. Für den Rest der Welt ist dann kaum noch etwas übrig. Außer in den heimischen Restaurants, die Schweizer Weine in all ihrer Vielfalt mit Stolz anbieten.
Falls Sie also Ihren Urlaub in der Schweiz beziehungsweise im Wallis verbringen, halten Sie Ausschau nach Weißweinen wie Paiën, Humagne, Rèze, Diolle, Petite Arvine und Amigne oder nach Rotweinen wie Cornalin, Humagne Rouge oder Lafnetscha. Zu den interessantesten Erzeugern gehören Jean-René Germanier, Histoire d‘Enfer, Domaine Cornulus und Marie-Thérèse Chappaz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung