Leben im Wahnsinn – mit Ivan Klíma verliert Tschechien einen eminenten Zeitgenossen und begnadeten Erzähler

Auch wenn es am Ende still um den tschechischen Schriftsteller Ivan Klíma geworden war, sein Roman «Liebe und Müll» machte ihn unvergesslich. Klíma blieb stets im Schatten von Milan Kundera, mit dem er sein Generationenschicksal teilt. Jetzt ist er gestorben.
Alena Wagnerová
Neben Milan Kundera und Bohumil Hrabal zählt Ivan Klíma zu den weltweit renommiertesten Autoren der tschechischen Nachkriegsliteratur. Im zeitgenössischen Lexikon der tschechischen Literatur von 1970 bis 1981 wird man ihre Namen allerdings vergeblich suchen. Nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings wurden die drei aus der Literatur «aussortiert» – und mit ihnen fast alle, die in den sechziger Jahren eine unvergleichlich starke Generation tschechischer Erzähler bildeten: Ludvík Vaculík, Josef Škvorecký und Arnošt Lustig, um nur die bekanntesten zu nennen.
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Nach seiner Rückkehr aus den USA, wo er 1969/1970 als Gastprofessor an der Michigan Universität gewirkt hatte, arbeitete Ivan Klíma in Prag als Strassenwischer und Fensterputzer. Aber gerade in dieser vom Regime zynisch «Normalisierung» genannten Zeit erlangte er als Autor höchste Meisterschaft. Der grosse psychologische Roman «Der Gnadenrichter» bildet den Höhepunkt seines literarischen Schaffens. Erscheinen konnte das Buch damals freilich lediglich im Samisdat. 1979 folgte die deutsche Übersetzung, die ihn in Deutschland, Österreich und der Schweiz bekannt machte
Die Hölle von TheresienstadtIm Roman behandelte Klíma auch die bitterste Erfahrung seines Lebens: den Horror, die er zwischen seinem zehnten und vierzehnten Lebensjahr in Ghetto von Theresienstadt erlebt hatte. Sein Vater, der international bekannte Elektroingenieur Wilhelm Kauders, wurde 1942 zusammen mit der Familie aus Rassegründen von der deutschen Besatzungsmacht im Sammel- und Durchgangslager festgesetzt, doch überlebten alle, weil die Nazis Wilhelms Kenntnisse benötigten. Nach der Befreiung der Tschechoslowakei 1945 änderte die Familie ihren Namen.
Der 1931 in Prag geborene Ivan Klíma hegte schon damals, inspiriert durch Charles Dickens, den Wunsch, Schriftsteller zu werden. Die Schrecken des Lagers weckten ihn ihm die Hoffnung auf eine bessere Welt. «Der Sozialismus befreit die Menschen von Krieg, Armut und Arbeitslosigkeit», doziert im Roman der Vater, ein Überlebender der Todesmärsche. Es war dies die Vision auch der Verfassers. 1953 trat Klíma der Kommunistische Partei bei und wurde zu einem der begeisterten jungen Milizen des Regimes.
Die Desillusionierung liess nicht lange auf sich warten. Das Leben begann die Ideologie zu zersetzen, was sich in den 1960 und 1963 erschienenen Büchern spiegelt, in denen Klíma Erfahrungen aus dem zurückgebliebenen armen Teil der Ostslowakei verarbeitete, der Reportage «Zwischen den drei Grenzen» und dem Roman «Die Stunde der Stille». Im Satz einer der Hauptfiguren ist seine eigene Ernüchterung herauszuhören: «Wir folgten einem Ideal und glaubten, nur schon dadurch den Weg zum menschlichen Glück gefunden haben.» In Abkehr vom Prinzipiellen begann Klíma sich der gelebten Wirklichkeit im Realsozialismus zuzuwenden. Dies nicht nur als Autor, sondern auch als Herausgeber der Reihe kleiner Prosa «Leben um uns herum».
Es folgten die Jahre, in denen trotz der anhaltenden kommunistischen Misere Zuversicht keimte: die Zeit der Entstalinisierung, der Aufbruch des Prager Frühling mit dem Kampf für mehr Freiheit und Demokratie. Die tschechische Intelligenzia, darunter Ivan Klíma, hatte an dieser Bewegung massgeblichen Anteil. Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen am 21. August 1968 indes zerschlugen sich die Hoffnungen.
Zeit des BilanzierensIvan Klíma Leben als Schriftsteller aber war noch lange nicht vorbei. Als treibende Kraft des Samisdat schrieb und veröffentlichte er in der illegalen Edice Petlice und übersetzte eifrig Literatur, darunter Kinderbücher und Essays. Was ihn im inneren Exil umtrieb, waren existenzielle Fragen: die Versuchungen und Abgründe der Ideologie, die Polarität des Geschlechter sowie die menschliche Einsamkeit. Der in dieser Zeit verfasste Roman «Liebe und Müll», der im Arbeitermilieu spielt, dessen Authentizität in einer Zeit von Lüge und Entfremdung der «Aussortierte» zu schätzen lernte, wurde zu seinem erfolgreichsten und meistübersetzten Buch.
Mit der Wiederkehr liberaler Verhältnisse nach der Samtenen Revolution 1989 büssten die tschechischen Kulturschaffenden ihre traditionelle Rolle des politischen Wegweisertums ein. Für Ivan Klíma begann die Zeit des Bilanzierens. «Mein wahnsinniges Jahrhundert» betitelte er seine Memoiren. Sie berichten von den Erfahrungen eines Menschen, dem in seinem Leben vier historische Brüche auferlegt waren.
Die tschechische Literatur verliert mit Ivan Klíma einen eminenten Zeitgenossen und begnadeten Erzähler. Er ist am 4. Oktober im Alter von 94 Jahren in seiner Heimatstadt Prag gestorben.
nzz.ch