In diesem Hotel wird jeder Wunsch wahr – sofern man bereit ist, dafür zu sterben

Der Schriftsteller Thomas Melle hat mit «Haus zur Sonne» einen ebenso dystopischen, wie autobiografischen Roman über ein Wellnesshotel geschrieben, in dem sich Lebensmüde ihre letzten Träume verwirklichen können. Damit steht er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.
Timo Posselt
Das Versprechen des Wellnesshotels in Thomas Melles neuem Roman «Haus zur Sonne» ist so verlockend wie diabolisch. Jeder erdenkliche Lebenstraum wird einem dort erfüllt – unter der einzigen Bedingung, dass man es keinesfalls lebend verlässt. Als der Held des Romans in einer Broschüre im Job-Center davon liest, klingt das erst wie ein Witz.
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«So nicht weiter? Wir machen es anders!», steht da in fetten Lettern. Und: «Das Pilotprojekt zur Lebensverbesserung, Traumverwirklichung und Selbstabschaffung.» Offen sei es für alle, die ihr bisheriges Leben hinter sich lassen wollten. Man spreche einfach seinen «Fallmanager» an. Das tut der Erzähler in Thomas Melles fünftem Roman schliesslich auch und landet kurz darauf im titelgebenden Haus zur Sonne – und damit in einem dystopischen System zur Selbstabschaffung.
«Ich war Asche»Zu verlieren hat der namenlose Erzähler eigentlich nicht mehr viel. Er ist ein arbeitsloser Schriftsteller und leidet abwechselnd unter depressiven wie manischen Schüben, an einer bipolaren Störung also. Die letzte Manie, so erzählt er, habe ihm «alles genommen». Er hat Freunde verloren, Schulden gemacht, Vorstrafen angesammelt, seinen Ruf ruiniert, mit Alkohol versucht, sich «des Bewusstseins zu entledigen», und ist mehrmals daran gescheitert, sich umzubringen.
Inzwischen erscheint ihm der Tod als Akt nicht mehr nur der Verzweiflung, sondern «auch der Vernunft». «Ich war Asche, ich war unheilbar krank, und ich könnte nur durch meinen Tod geheilt werden.» Der Lebensfunke, so glaubt er, sei in ihm schon erloschen.
Mit seinen Suizidgedanken ist er im Haus zur Sonne nicht allein. An der Therme des Hotels trifft er auf andere gescheiterte Existenzen. Ihre Lebensmüdigkeit eint sie, doch sie unterscheiden sich in ihren Wünschen und Lebensträumen, die sie sich täglich von den weissbekittelten Ärzten als lebensechte Visionen in ihr Bewusstsein speisen lassen können.
Eine Klientin zettelt in ihren Träumen beispielsweise Weltkriege an. Andere erträumen sich Orgien, Morde, Zeitreisen. Der Erzähler dagegen hat vorerst bescheidene Wünsche. Etwa die innige Umarmung eines Freundes nach einem langen Tennis-Match. Bis er sich dann doch dazu durchringt, als Rockstar eine Stadionbühne zu bespielen, sich in eine Orgie zu stürzen oder als Mediziner ein Heilmittel gegen Krebs zu finden.
Die eigene Krankheit wird LiteraturJe länger der Erzähler im Hotel verweilt, desto mehr befallen ihn Zweifel, ob es eine gute Idee war, sein bisheriges Leben endgültig aufzugeben. Aber kann er dem vertraglich vereinbarten Tod überhaupt noch entkommen? Die bis jetzt stets zuvorkommenden Ärzte jedenfalls werden langsam ungeduldig.
Thomas Melle, geboren 1975 in Bonn, hat sich selbst in seinen neuen Roman eingeschrieben. Schliesslich erzählte er schon in «Die Welt im Rücken» (2016) von seiner eigenen bipolaren Erkrankung. Diesen autobiografischen Faden greift er nun in «Haus zur Sonne» wieder auf und zwirnt ihn in die dystopische Erzählung vom titelgebenden Selbstabschaffungshotel.
Das Material aus dem eigenen Leben wird dabei zu einer Art Faustpfand der Wirklichkeit, das seinem Gedankenexperiment nicht nur eine existenzielle Glaubwürdigkeit verleiht, die Melle mit einer bildhaften, doch nie bemühten Sprache verstärkt, die ihr sonst fehlte, sondern es auch vor Zynismus bewahrt: Melle weiss, wie es ist, sich selbst nicht mehr zu helfen zu wissen. Umso befreiter kann er auf die Frage, wie eine Gesellschaft mit derlei Lebenshilflosigkeit umgeht, mit einer bitterbösen Sozialkritik antworten.
In Bruchstücken erzählt er von seinen manischen Phasen, auf die verlässlich die Scham, die Leere und schliesslich wieder die «ewige Anhäufung von leidvollen Nullmomenten» der Depression folgen. So erschütternd sich diese Berichte lesen, so heiter sind manche Passagen aus dem einlullenden Hotelalltag. Gerade in Melles Dialogen steckt oft eine dunkle Komik. Beispielsweise, wenn der Erzähler versucht, einem besonders gesprächigen Mitklienten auszuweichen, der ihm unbedingt von seiner letzten Vision erzählen möchte; er hat darin einen Menschen gehäutet.
Da schafft man sich lieber selber abLiteraturgeschichtlich steht Melle mit seinem «Haus zur Sonne», das Depressive, Lebensmüde und weitere Abtrünnige aus der Wertschöpfungskette zum Verschwinden einlädt, in der Tradition des irischen Schriftstellers Jonathan Swift, der in seiner Satire «A Modest Proposal» (1729) vorschlug, hungernde Kinder als Nahrung zu betrachten, statt sie weiter ihren Eltern oder dem Staat zur Last fallen zu lassen.
Melle übersetzt Swifts satirische Volte nun auf das Sozialsystem der Gegenwart und spiesst damit ein gesellschaftliches Klima auf, in dem es politisch immer weniger opportun zu sein scheint, nicht zu arbeiten. Da schaff ich mich lieber gleich selbst ab, sagen sich da die Sockelarbeitslosen und die weiteren nicht integrierbaren Problemsozialfälle bei Melle und melden sich für einen staatlich geförderten Freitod an. Das kommt für alle günstiger.
Selbstverständlich kann man Melles Roman auch bloss als Literatur lesen, die nun völlig zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominiert ist. Gleichzeitig dringt er darin aber literarisch zur Kernfrage jener Kürzungsdebatten im Sozialstaat vor, die diese trotz allen Forderungen nach Eigenverantwortung nicht bis zur letzten Konsequenz durchzuspielen wagen.
Thomas Melle: Haus zur Sonne. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 320 S., Fr. 33.50.
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