OECD-Bericht: Deutschland muss stärker auf Patientenfeedback hören

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OECD-Bericht: Deutschland muss stärker auf Patientenfeedback hören

OECD-Bericht: Deutschland muss stärker auf Patientenfeedback hören

Berlin. Eigentlich sollte Gesundheitsversorgung sich an den Bedürfnissen der Patienten ausrichten – Symptome lindern, Lebensqualität verbessern. Doch eine OECD-Untersuchung, an der 19 Länder teilgenommen haben, zeigt, dass dies den Gesundheitssystemen nur in stark unterschiedlichem Maße gelingt.

Wissenschaftler haben im Rahmen der „Patient-Reported Indicator Survey“ (PaRIS) genannten Studie 107.000 Patienten, die älter als 45 Jahre waren, in 19 Ländern befragt und Daten aus 1.800 Primärversorgungseinrichtungen erhoben. Dabei waren Länder wie die Niederlande, Portugal, Australien oder Spanien, nicht aber Deutschland.

Es habe im Bundesgesundheitsministerium methodische Bedenken an der Vorgehensweise der Studie gegeben, hieß es anlässlich der Online-Veranstaltung „Qualitätssicherung in der Gesundheitsversorgung: Fragen Sie Ihre Patienten!“, zu der die OECD eingeladen hatte.

Ziel der Studie ist es, medizinische Outcomes und Erfahrungen von Patienten über 45 Jahre mit chronischen Erkrankungen zu ermitteln. Mehr als die Hälfte der befragten Patienten hatte zwei chronische Erkrankungen (52 Prozent), mehr als ein Viertel sogar drei oder mehr dieser Erkrankungen, berichtete Michael van den Berg von der Health Division der OECD.

70 Prozent dieser Patienten nähmen drei oder mehr Medikamente gleichzeitig ein. Es handele sich um die am stärksten wachsende Gruppe von Patienten in der OECD, betonte er.

Insgesamt zehn Kriterien abgefragt

Er berichtete, mehr als die Hälfte der Patienten mit drei Erkrankungen würden in Sprechstunden versorgt, die weniger als 15 Minuten dauern. Aus den erhobenen Daten sei eine klare Beziehung zwischen der Dauer der Versorgung (in Minuten) und dem Vertrauen, das der Patient dem Arzt dabei entgegenbringt, ableitbar, erläuterte van den Berg. Diese Patientengruppe benötige daher mehr Unterstützung.

Insgesamt ermittelten die Wissenschaftler fünf Patient-Reported Outcome Measures (PROM) und fünf Patient-Reported Experience Measures (PREM), um Patientenzentrierung zu messen. Dazu gehörten beispielsweise die von den Patienten wahrgenommene Koordination der Versorgung, die Möglichkeit des Selbstmanagements ihrer Erkrankung(en) oder das Vertrauen in das Gesundheitssystem.

Die Unterschiede zwischen den 19 teilnehmenden Ländern sind groß, betonte van den Berg. Länder mit einer traditionell hohen durchschnittlichen Lebenserwartung ihrer Bevölkerung schnitten nicht notwendigerweise bei der Befragung am besten ab.

Ranking zwischen Ländern nicht das Ziel

Ein Ranking zwischen den Ländern ist mit dieser Untersuchung nicht beabsichtigt, stellte Reinhard Busse, Professor für Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin klar: „Es geht hier nicht um Gold- und Silbermedaillen.“

Entscheidend seien die Charakteristika der einzelnen Gesundheitssysteme, die zu besseren Versorgungsergebnissen führen. Allerdings seien Patientenbefragungen nur dann sinnvoll, wenn sie als Längsschnittverläufe – also über viele Jahre hinweg – stattfinden, erläuterte Busse.

Die mit der OECD-Untersuchung aufgeworfenen Fragen sind hochaktuell mit Blick auf das Ziel der neuen Bundesregierung, ein verbindliches Primärversorgungssystem zu etablieren, sagte Professor Oliver Gröne, Versorgungsforscher an der Universität Witten-Herdecke.

„Wie gehen wir mit den neuen Vorgaben um?“ Viel spreche dafür, die geplante Reform so anzulegen, dass die Koordination der Versorgung auf der Systemebene gestärkt wird, so Busse.

Unterstützende Systeme „aus der Praxis“

Dr. Leonor Heinz von der Initiative Deutscher Forschungspraxennetze bei der DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) nannte es „unwürdig“, dass im 21. Jahrhundert für viele Aspekte der ärztlichen Versorgung und der Qualitätssicherung keine validen Daten vorliegen.

„Ich möchte im Versorgungsalltag die Hoffnung haben, dass das, was ich tue, zu einer Ergebnisverbesserung beiträgt“, beschrieb sie ihr ärztliches Ethos. Sie verglich die Herausforderung mit dem Verhältnis von Verhaltens- und Verhältnisprävention: Man könne Verbesserungen nicht allein auf der „Mikroebene“ der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung erzielen. „Wir benötigen aus der Praxis und für die Praxis unterstützende Systeme“, so ihr Plädoyer.

Allerdings ist der Weg in Deutschland bis zur breiten Etablierung von PROMs und PREMs noch weit, berichtete Cordula Mühr, Patientenvertreterin im Gemeinsamen Bundesausschuss. „Es fühlt sich niemand zuständig.“ Sie werbe seit Jahren dafür, im Rahmen des G-BA Patientenbefragungen als ein gleichwertiges Instrument der Qualitätssicherung einzuführen.

Doch gebe es bislang nur ein einziges Verfahren im Kontext der Versorgung mit Herzkathetern (Perkutane Koronarintervention und Koronarangiographie, PCI). Nur seien die dazu vorliegenden Ergebnisse bislang nicht veröffentlicht worden, monierte Mühr.

Beispiel Österreich

Österreich hat hier immerhin einen ersten Schritt gemacht und im Jahr 2022 eine sektorenübergreifende Patientenbefragung vorgenommen. Ziel der Befragung von rund 2.300 Patientinnen und Patienten war es, zu erfahren, wie die sektorenübergreifende Gesundheitsversorgung funktioniert.

Teilgenommen haben Patienten, die im dritten Quartal 2021 stationär behandelt werden mussten und anschließend mindestens einen ambulanten Versorgungskontakt hatten.

Verena Nikolai vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz in Österreich bezeichnete die Befragungsergebnisse als „teilweise überraschend gut“.

90 Prozent der Antwortenden gaben an, sie seien im Krankenhaus in Entscheidungen über die Behandlung einbezogen worden. Bei der ambulanten Versorgung gaben dies sogar 94 Prozent der Patienten an. Ebenfalls 94 Prozent waren der Auffassung, Arzt oder Ärztin hätten sich ausreichend Zeit genommen.

„Patienten müssen sich gehört fühlen“

Doch es wurden in der Befragung auch Koordinationsprobleme der Versorgung deutlich: 17 Prozent gaben an, sie hätten widersprüchliche Informationen von verschiedenen Gesundheitsdienstleistern erhalten, 15 Prozent der Patienten berichteten, sie hätten keine (drei Prozent) oder nicht ausreichende (zwölf Prozent) Informationen über verordnete Medikamente erhalten.

Patienten, so das Resümee von Verena Nikolai, „müssen sich gehört fühlen – das wirkt sich auch auf die Therapieadhärenz aus“. Auf die Erfahrungen von Patienten zu hören, sei ein Schlüssel, um die Versorgung zu verbessern, so das Fazit des OECD-Wissenschaftlers Michael van den Berg.

In Deutschland werden überwiegend noch erste Gehversuche gemacht, patientenberichtete Informationen systematisch zu verwenden. Dazu gehört das im Februar 2024 gestartete Modellprojekt mehr-patientensicherheit.de des Ersatzkassenverbands vdek.

Es handelt sich, so die Initiatoren, um das erste Critical Incident Reporting System (CIRS), das sich direkt an Versicherte und ihre Angehörigen richtet und sich über fast alle Versorgungsbereiche erstreckt, hieß es beim Start vor rund eineinhalb Jahren.

Aus der Versorgung für die Versorgung

Bei dem Portal werden wöchentlich zwischen vier und zwölf neue Fälle gemeldet, 1.647 seien es seit Mitte Februar 2024 gewesen, teilt der vdek auf Anfrage mit. 43 Prozent der Fallmeldungen stammten aus der ambulanten Versorgung, 42 Prozent werden aus Krankenhäusern gemeldet, fünf Prozent aus Reha-Einrichtungen und drei Prozent aus dem Pflege-Bereich.

Vereinzelt gingen auch Meldungen ein, die auf Erfahrungen in Apotheken, beim Rettungsdienst oder Krankentransport und in Geburtseinrichtungen fußten.

Aufgearbeitet werden die von Patienten oder Angehörigen berichteten Erfahrungen von der Deutschen Gesellschaft für Patientensicherheit (DGPS). Allerdings erhalte der individuelle Patient dabei keine individuelle Rückmeldung. Vielmehr würden bei der Fallauswertung alle Angaben zu Personen, Zeit und Ort anonymisiert und der Bericht werde einem von zwölf Themen-Clustern zugeordnet.

Dazu gehören beispielsweise die Verordnung, Dosierung oder Verabreichung von Medikamenten, Versorgungsschritte und -prozesse (Behandlung, Diagnose oder Pflege) oder das Verhalten von Gesundheitspersonal – positive wie negative Fallbeispiele.

Zweijährige Projektphase – und dann?

Besonders lehrreiche und interessante Fälle werden in Form von sogenannten Fokusfällen dokumentiert. Seit Anfang dieses Jahres würden die dabei gewonnenen Informationen auch via Social Media für Kampagnen zur Erhöhung der Patientensicherheit verwendet, heißt es vom vdek. Es sei auch geplant, aufgearbeitete CIRS-Informationen durch Newsletter an das Gesundheitsfachpersonal zurückzuspiegeln.

Nicht alles, was aus Sicht der Patienten nicht optimal läuft, habe Einfluss auf das Behandlungsergebnis oder sei ein Fehler, sagte die vdek-Vorstandsvorsitzende Ulrike Elsner beim Start des Portals. Es gehe auch nicht darum, medizinisches Personal oder Institutionen „anzuklagen“, betonte sie.

Doch je umfassender kritische Ereignisse strukturiert in einem CIRS erfasst würden, „desto höher ist das Lernpotenzial für andere, und umso besser können aus diesen Ereignissen geeignete Präventionsmaßnahmen abgeleitet werden“, erläuterte Elsner.

Stärkere Stimme für Patienten

Doch inwieweit das Patienten-berichtete CIRS seine zweijährige Projektphase – plus der Option einer einjährigen Verlängerungsphase – überlebt, ist derzeit ungewiss. Man sei „bestrebt“, weitere Kassen oder Kassenverbände für das Projekt zu gewinnen, erklärt der vdek.

Das Portal sei ein geeignetes Instrument, um Patienten eine stärkere Stimme in der Versorgung zu geben und „sollte aus unserer Sicht verstetigt werden“.

Somit bleiben die Chancen unklar, ob auch in Deutschland die Verfügbarkeit von patientenberichteten Daten zunimmt. Unterdessen steht in der PaRIS-Studie der OECD jetzt die zweite Untersuchungsrunde an. Er gehe davon aus, dass dieses Mal die meisten OECD-Länder dabei sein werden, sagte Michael van den Berg.

Arzte zeitung

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