Ist die spanische Gesellschaft kaputt?

Analysten sind sich einig, dass eine populistische Welle die Welt erfasst, insbesondere die sogenannten westlichen Demokratien. Auch Spanien ist von diesem Phänomen nicht verschont geblieben, doch sind die Auswirkungen im Vergleich zu anderen Nachbarländern weniger ausgeprägt. Dies liegt zum Teil an der Toleranz der spanischen Bürger gegenüber der Einwanderung, wie aus der Ipsos-Studie „Populismus in Spanien 2025 “ hervorgeht, die unter anderem der Frage nachgeht, ob die spanische Gesellschaft zerbrochen ist.
Die rechtsextreme Wählerschaft steht vor dem Widerspruch, dass sie Referenden und gleichzeitig eine starke Führung will.Laut dieser Studie, die Teil einer wesentlich größeren, in 31 Ländern durchgeführten Umfrage ist und Themen analysiert, die Populismus befeuern, wie soziale Unruhen, die Kluft zwischen Bürgern und Eliten sowie die Wahrnehmung von Einwanderung und nationaler Identität, zeigen die Spanier eine vergleichsweise tolerantere Haltung gegenüber Einwanderung als der globale Trend. So glaubt beispielsweise nur ein Drittel der Spanier, dass Spanien stärker wäre, wenn die Einwanderung von Ausländern gestoppt würde. Dies steht im Gegensatz zu Daten aus beispielsweise Ungarn (48 %), Deutschland (45 %), Italien (40 %), Frankreich (39 %) und dem Vereinigten Königreich (38 %).
Vox-Wähler und in geringerem Maße auch PP-Wähler betrachten die spanische Gesellschaft als zerrüttet und im Niedergang begriffen.Dieselben Daten zeigen jedoch, dass die Wahrnehmung des Migrationsphänomens in Spanien außerordentlich polarisiert ist. So sind mehr als sieben von zehn Vox-Wählern Einwanderern gegenüber misstrauisch, während dieser Anteil bei den PP-Wählern auf vier von zehn sinkt. Wähler von Sumar (10 %) und der PSOE (26 %) stehen auf der entgegengesetzten Seite. Dies erklärt zum Teil die fremdenfeindlichen Vorfälle der letzten Wochen, die von einer Minderheit verübt und von der großen Mehrheit abgelehnt wurden.
Die Spanier zeigen eine tolerantere Haltung gegenüber der Einwanderung als der globale Trend.Ähnliches gilt für die Wahrnehmung der Gesellschaft. Die Spanier betrachten die spanische Gesellschaft als zerrüttet (55 %) und im Niedergang begriffen (57 %). Diese Wahrnehmung hängt jedoch wiederum von der Perspektive ab, durch die man sie betrachtet. Fast neun von zehn Vox-Wählern und sechs von zehn PP-Wählern stimmen der sozialen Spaltung Spaniens zu, und acht von zehn Vox-Wählern und mehr als sechs von zehn PP-Wählern glauben, dass sie sich im Niedergang befindet. Im Gegensatz dazu glauben nur etwa vier von zehn PSOE- und Sumar-Wählern dies. Genauer gesagt glauben 74 % der Befragten, dass die Hauptspaltung der Gesellschaft zwischen den einfachen Bürgern und der politischen und wirtschaftlichen Elite besteht. Diese Ansicht wird über alle Altersgruppen und Ideologien hinweg weithin geteilt. In jedem Fall schlagen sich soziale Unruhen der Ipsos-Analyse zufolge in einem tiefen Misstrauen gegenüber Politikern nieder. Tatsächlich scheinen sie das größte Problem des Landes zu sein, das von 41 % der Befragten genannt wird, gefolgt – überraschenderweise mit großem Abstand – vom Wohnungsproblem (15 %).
Spanien weist jedoch im Vergleich zu anderen Ländern, in denen der populistische Diskurs stärker Fuß gefasst hat, eine geringere Intensität des sozialen Zusammenbruchs auf. Es gehört zu den Ländern mit einem durchschnittlichen Index des sozialen Zusammenbruchs von 60 %, gleichauf mit den Vereinigten Staaten, deutlich vor der Schweiz (42 %), den Niederlanden (45 %) oder Schweden (46 %), aber deutlich unter dem Vereinigten Königreich (66 %), Argentinien (64 %) oder Ungarn und Frankreich (63 %). Tatsächlich war dieser Index, der von Ipsos als Durchschnitt verschiedener Fragen zur Wahrnehmung der politischen und wirtschaftlichen Eliten berechnet wurde, 2016 in Spanien scheinbar höher (67 %), als die Auswirkungen der Finanz- und Schuldenkrise noch immer spürbar waren und sich die katalanische Territorialkrise von 2017 zusammenbraute. Seinen Tiefpunkt erreichte er 2022 (53 %) nach dem Umgang der Regierung mit den aufeinanderfolgenden COVID-Krisen und den Folgen der russischen Invasion in der Ukraine und ist seitdem parallel zu den politischen Spannungen, die durch die Amtseinführung von Pedro Sánchez verursacht wurden, gestiegen.
Die Umfrageergebnisse zeigen auch gewisse Widersprüche auf, die für den populistischen Diskurs typisch sind. So sind beispielsweise 65 Prozent der Bürger der Meinung, die wichtigsten politischen Fragen sollten durch Referenden entschieden werden, während 33 Prozent gleichzeitig der Meinung sind, dass ein starker Anführer notwendig sei, der bereit sei, „die Regeln zu brechen“. Vox-Wähler sind von diesem Widerspruch am stärksten betroffen: 74 Prozent befürworten Referenden und 54 Prozent einen starken Anführer. Ein weiterer Widerspruch betrifft Steuern und öffentliche Dienstleistungen. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten ist gegen Steuererhöhungen – 73 Prozent der Vox-Wähler und 65 Prozent der PP-Wähler –, doch eine große Mehrheit ist der Meinung, dass die Ausgaben für Gesundheit (82 Prozent), Bildung, Schaffung von Arbeitsplätzen (76 Prozent) und öffentliche Sicherheit (70 Prozent) erhöht werden sollten.
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