Die Vermessung der Ozeane – Fluch oder Segen?

Beim Blick auf Google Maps scheint es so, als wäre unser blauer Planet bis in den letzten Winkel kartografiert. Immerhin können kommerzielle Satelliten von der Erdoberfläche eine Auflösung von etwa 30 cm pro Pixel liefern. Für Ozeanflächen sind die Aufnahmen eher grob, hier liegt die Auflösung meist im Bereich von etwa fünf bis acht Kilometern pro Pixel.
Was jedoch unter der Wasseroberfläche liegt, bleibt Satelliten weitgehend verborgen, da Radarsignale nicht durch Wasser dringen können. Und mit Hilfe von Echoloten wurden bislang erst knapp 20 Prozent des Ozeanbodens vermessen.
Das will Seabed 2030 ändern: Als gemeinsames Projekt der Vereinten Nationen und der privaten Nippon Foundation wollen Forschende aus aller Welt bis Ende des Jahrzehnts den gesamten Ozeanboden kartografieren.
Unvorstellbares Universum unter Wasser71 Prozent der Erdoberfläche ist von Ozeanen bedeckt und allein die schiere Größe der Ozeane sei für uns Menschen kaum vorstellbar, sagt Laura Trethewey, Autorin des Buches "The Deepest Map". "Es gibt einfach keine Entsprechung auf dem Land, weshalb wir den Ozean so oft mit dem Mond oder dem Weltraum vergleichen," so die kanadische Umweltjournalistin gegenüber der DW. Die Mond- oder Marsoberflächen sind allerdings besser kartografiert als der Meeresboden.
Statt nach den Sternen zu greifen und von neuen, perfekten Gesellschaften auf dem Mars zu träumen, sollten wir lieber "diesen außerirdisch anmutenden Raum direkt hier auf der Erde" erforschen, findet Trethewey. Während wir das Weltall nach extraterrestrischem Leben absuchen, leben in der völlig dunkeln Welt kilometertief unter dem Meeresspiegel die faszinierendsten und skurrilsten Kreaturen: durchsichtige Geisterfische, Anglerfische, die einen leuchtenden Köder vor sich hertragen oder gewaltige Riesenkalmare. Wer nach Aliens sucht, hier existieren sie wirklich.
Schallwellen machen ganze Welten sichtbarUm das Unterwasser-Universum zu erforschen werden akustische Schallwellen fächerartig von Schiffen, Tauchrobotern und U-Booten in verschiedene Richtungen zum Meeresboden ausgesendet. Die Laufzeit dieser Signale bis zum Boden und zurück wird für jeden Strahl einzeln gemessen und daraus die Tiefe berechnet. Je tiefer der Ton, desto tiefer das Meer.
So liefert die Fächerecholot-Vermessung topografische Karten, dreidimensionale Modelle und Geländeprofile selbst für sehr große Tiefen. "Es gibt ganze Welten, die wir hier auf der Erde noch nicht kennen, unentdeckte Berge und Schluchten, der Wissenschaft unbekannte Tiere und einfach riesige Mengen an Daten und Entdeckungen, die noch auf uns warten", so Laura Tretheway.
Angesichts des Klimawandels könne die wissenschaftliche Erforschung des Meeresbodens auch wichtige Informationen über zukünftige Entwicklungen liefern. "Ein Großteil des Meeresbodens war früher Land. Nach der letzten Eiszeit schmolzen die Gletscher und setzten Wasser frei, das Kontinentalschelfe bedeckte, die so groß sind wie Südamerika. Es gibt also dort unten einen anderen Kontinent, ein weiteres verlorenes Atlantis, das Aufschluss darüber geben könnte, wie frühere menschliche Gesellschaften mit dem Anstieg des Meeresspiegels umgegangen sind", so Trethewey. "Seekarten erzählen uns viel über die Vergangenheit und die Zukunft und helfen uns auch, durch die Gegenwart zu navigieren."

Wahrscheinlich wird Seabed 2030 sein ehrgeiziges Ziel verfehlen. Die Ozeane sind einfach zu groß, es fehlen die nötigen Schiffe und Sonargeräte, es gab "Verzögerungen durch die Covid-Pandemie, und auch die politische Motivation, dies zu erreichen, nahm ab", meint die Saubuchautorin Trethewey.
"Als das Projekt 2017 ins Leben gerufen wurde, war die Welt geopolitisch gesehen weniger zersplittert. Wir leben heute in einer instabileren Zeit, und die Regierungen sind misstrauischer und weniger bereit, Karten zu teilen." Die Technologie sei nicht das Problem, die gäbe es seit Jahrzehnten.
Die Organisatoren versuchten vergeblich, "etwaige Defizite durch Innovationen wie Drohnen und Crowdsourcing sowie durch die Rekrutierung von Superyachten und Kreuzfahrtschiffen zur Kartierung des Meeresbodens auszugleichen", so Trethewey.
Militärs und Konzerne investieren in die KartographierungDie Erforschung der Tiefsee ist eine extreme Herausforderung an Mensch und Gerätschaft. Durch die widrigen Gegebenheiten auf See koste eine Expedition etwa 50.000 US-Dollar pro Tag", so Tretheway. "Der Großteil der nicht kartografierten Teile des Ozeans befindet sich in tiefen, internationalen Gewässern, die laut Seerecht allen und niemandem gehören. Das bedeutet, dass oft das Militär oder Branchen wie Fischerei, Bergbau und Telekommunikation die Kartierung durchführen, die nicht unbedingt bereit sind, ihre Karten zu teilen."
Seabed 2030 schätzt die Kosten für sein selbst gestecktes Ziel auf drei bis fünf Milliarden Dollar. Das entspricht in etwa den Kosten der Marsmission, die 2020 begann, einschließlich der Landung des Rovers Perseverance auf dem Roten Planeten.
Dienen Karten letztendlich der Ausbeutung?Eine vollständige Kartierung könnte allerdings die Ausbeutung der Ozeane deutlich beschleunigen. "Wenn Menschen an Karten denken, denken sie oft an Bergbau und Rohstoffgewinnung. Und damit liegen sie nicht falsch. Derzeit gibt es große Bestrebungen, die Tiefsee zu erschließen und die ersten kommerziellen Minen in internationalen Gewässern zu eröffnen", so Laura Trethewey.
Die Umweltautorin hofft darauf, dass die Kartierung vor allem für die Wissenschaft und den Naturschutz genutzt wird. So wie sich die internationale Gemeinschaft kurz nach der vollständigen Kartierung der Antarktis in der Nachkriegszeit auf den Antarktisvertrag einigte, der den Kontinent 60 Jahre lang für wissenschaftliche Zwecke schützte.
Geld und politischer Wille nötigSelbst strenge Regeln können die Tiefsee wahrscheinlich nicht so gut schützen wie unsere jetzige Unwissenheit und die Unzugänglichkeit der Ozeane. "Fast zwei Drittel der Ozeane und fast die Hälfte der Erdoberfläche fallen unter das sogenannte internationale Gewässer, sodass kein Land und keine Person Eigentumsrechte daran hat. Dieser unklare rechtliche Status ist der Hauptgrund dafür, dass die internationalen Gewässer größtenteils unüberwacht und unreguliert sind und dass es so schwierig ist, Verbrechen auf See zu bekämpfen, sei es Überfischung, Umweltverschmutzung oder Drogenhandel", erläutert Trethewey.
"Eine strengere Meerespolitik wäre zwar zu begrüßen, aber vielleicht noch wichtiger sind Geld und politischer Wille", so die kanadische Autorin gegenüber der DW. "Der Ozean ist unvorstellbar riesig, und ohne Geld für die Überwachung und Durchsetzung von Vorschriften auf See sind mehr Regeln weitgehend bedeutungslos."
Laura Tretheweys Buch "The Deepest Map" ist im September 2025 unter dem deutschen Titel "Bis zum Grund der Welt" im Mare-Verlag erschienen.
dw