Das Wissen über das Gehirn nimmt zu, das bedroht die Psychiatrie

Noch nie suchten wegen mentaler Probleme so viele Menschen Hilfe auf. Trotzdem sieht sich die klassische Psychiatrie
in ihrem Status bedroht. Ist die Neurologie gerade dabei, die Psychiatrie auf den Kopf zu stellen?
Theres Lüthi

Für jedes unserer Körperorgane gibt es eine medizinische Fachrichtung. So kümmern sich Kardiologen um das Herz, Pneumologen um die Lunge, Dermatologen um die Haut. Eine Ausnahme bildet das Gehirn. Für sein Wohl sind zwei Fachrichtungen zuständig: die Neurologie und die Psychiatrie.
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Neurologen befassen sich mit körperlich, organisch nachweisbaren Schädigungen des Nervensystems. Dazu gehören zum Beispiel Schlaganfälle, Alzheimer oder multiple Sklerose. Psychiater hingegen behandeln psychische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depressionen. Die damit verbundenen Störungen des Denkens, Empfindens oder Verhaltens beruhen zweifellos auch auf Gehirnaktivitäten – ihre Ursachen sind jedoch nicht eindeutig lokalisierbar. Bis heute gibt es keine objektiven Tests, mit denen sich zweifelsfrei feststellen liesse, ob zum Beispiel jemand an Schizophrenie leidet oder nicht.
Die Grenze zwischen den beiden Fachrichtungen ist allerdings durchlässig, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. So galt die Epilepsie lange Zeit als psychische Erkrankung. Erst mit der Einführung des Elektroenzephalogramms im 20. Jahrhundert wurde deutlich, dass unkontrollierte Entladungen von Nervenzellen im Gehirn die Ursache der Anfälle sind. Heute sind es Neurologen, die sich um diese Patienten kümmern.
Vor hundert Jahren belegten Syphiliskranke die PsychiatriebettenÄhnlich verhielt es sich mit der progressiven Paralyse. Vor hundert Jahren füllten Betroffene die Psychiatrieabteilungen, bis man erkannte, dass es sich um eine Spätfolge der Syphilis handelte. Die Infektion des Gehirns führte zu Grössenwahn und Denkstörungen – Symptome, die auch bei einer Schizophrenie auftreten können.
Fälschlicherweise als psychisches Leiden verstanden wurde noch vor 20 Jahren auch eine bestimmte Unterart der Gehirnentzündungen. Die betroffenen Patienten litten ebenfalls teils unter wahnhaften, schizophrenieartigen Symptomen. Inzwischen hat sich die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis als Autoimmunerkrankung entpuppt, Enzephalitis ist der Fachausdruck für Gehirnentzündungen.
Das wohl aktuellste Beispiel ist das chronische Erschöpfungssyndrom myalgische Enzephalomyelitis. Vielerorts wird es noch immer als psychisches Leiden betrachtet. Doch einiges deutet darauf hin, dass es eine neuroimmunologische Krankheit ist, die meist durch einen viralen Infekt ausgelöst wird.
Diese Fälle veranschaulichen: Viele Krankheiten, bei denen man zunächst einen psychischen Ursprung vermutete, liessen sich später auf körperliche Ursachen zurückführen. Eine Entwicklung, die sich mit den Fortschritten der Neurowissenschaften fortsetzen dürfte. «Ist es das Schicksal der Psychiatrie und des Konzeptes der psychischen Erkrankung, lediglich als Übergangslösung zu dienen, bis die ‹wahren› Ursachen gestörter psychischer Abläufe gefunden werden?», fragt deshalb der Psychiater und Psychotherapeut Paul Hoff. Oder anders formuliert: Wird sich die Psychiatrie irgendwann in der Neurologie und in den klinischen Neurowissenschaften auflösen?

Die Frage ist nicht neu. Schon 1845 formulierte Wilhelm Griesinger, einer der Begründer der biologischen Psychiatrie, die These, dass Geisteskrankheiten im Kern immer auch Gehirnkrankheiten seien. Er inspirierte Generationen dazu, psychische Störungen mit naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen, um nach den organischen Ursachen zu suchen.
Viel Geld, hohe Ziele – die Therapie blieb dennoch unverändertDas Projekt der «biologischen Psychiatrie» wurde in den vergangenen Jahrzehnten mit grossem Eifer vorangetrieben. «Mental diseases are brain disorders», psychische Erkrankungen sind Hirnerkrankungen, lautete das Credo von Thomas Insel, dem ehemaligen Direktor des nationalen Forschungsinstituts für psychische Gesundheit in den USA, NIMH. Damit prägte er das Denken einer ganzen Epoche. Über 20 Milliarden Dollar investierte die Behörde in die Erforschung psychischer Leiden, in der Hoffnung, ein tieferes Verständnis der molekulargenetischen Grundlagen zu gewinnen. Der Ansatz sollte präzisere Diagnosen und gezieltere Behandlungen liefern.

National Institute of Mental Health
Doch zwanzig Jahre später zeigt sich: Insels Versprechen haben sich nicht erfüllt. «Uns ist es nicht gelungen, die Selbstmordrate zu senken, die Zahl der Spitalaufenthalte zu reduzieren und die Situation von Millionen von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern», räumte der Neurowissenschafter 2017 gegenüber der Zeitschrift «Wired» ein.
Die rein biologische Perspektive ist zu einseitigWarum ist das so? Aktuelle Modelle verstehen psychische Leiden als Ergebnis eines Zusammenspiels biologischer, psychischer und sozialer Faktoren. Keiner dieser drei Einflüsse kann für sich alleine eine psychische Störung erklären. In den letzten Jahrzehnten jedoch hat die biologische Perspektive die anderen in Wissenschaft und Therapie zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Zu sehr, finden zwei Neuropsychologinnen der Universität Padua. In einem Artikel in der Fachzeitung «Lancet Psychiatry» zeigen sie am Beispiel der Sucht die Grenzen einer rein biologischen Auslegung psychischer Störungen auf.
Zwar habe die Neurowissenschaft in den letzten Jahrzehnten beachtliche Fortschritte bei der Entschlüsselung der biologischen Grundlagen der Sucht gemacht, schreiben sie. So wurde beispielsweise gezeigt, dass der Konsum entsprechender Substanzen mit Veränderungen in Struktur und Funktion des Gehirns einhergeht – und zwar vor allem in jenen Arealen, die für Belohnung und Impulskontrolle zuständig sind. Beides sind Gehirnregionen, die gerade im Rausch beeinflusst werden.
Doch hätten sich diese Befunde nicht als spezifisch genug erwiesen, um klinisch von Nutzen zu sein, sagt die Erstautorin Chrysanthi Blithikioti. «Es gibt zum Beispiel keine neuronale Signatur, anhand deren sich das Gehirn einer suchtkranken Person von dem einer gesunden unterscheiden liesse.» Die wirksamsten Therapien seien nach wie vor psychosoziale Massnahmen – Gesprächstherapien, soziale Unterstützung. Was ebenfalls dafür spricht, dass sich psychische Störungen nicht einfach auf Hirnkrankheiten reduzieren lassen.
Vielleicht, so könnte man einwenden, sind die entscheidenden neuronalen Schaltkreise einfach noch nicht entdeckt worden? Tatsächlich sehen viele Fachleute die Ursache für die langsamen Fortschritte der Neurowissenschaften in der unscharfen Diagnostik. Bis heute werden psychische Störungen nur anhand von Symptomen definiert und diagnostiziert. Die zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen spielen dabei kaum eine Rolle. Sie sind noch zu wenig verstanden. Doch viele der Symptome treten bei ganz verschiedenen Krankheiten auf. Dies führt dazu, dass Patienten oft mehrere und auch falsche Diagnosen erhalten. Eine präzisere Diagnostik ist dringend nötig.
Ein neuer Ansatz: Symptome erforschen, nicht DiagnosenMit neuen Ansätzen versucht man nun, psychiatrische Diagnosen auf eine neurowissenschaftliche Basis zu stellen. Konkret bedeutet das: Anstatt die herkömmlichen Krankheitskategorien wie Schizophrenie oder Suchtstörungen isoliert zu erforschen, werden übergreifende Symptome – etwa Angst – untersucht. Unabhängig davon, ob diese bei einer Angststörung, einer Schizophrenie oder gar im Rahmen einer neurologischen Erkrankung beobachtet werden. Denn auch viele Patienten mit neurologischen Leiden entwickeln psychische Symptome. Ein klassisches Beispiel ist die Depression nach einem Schlaganfall. Oder Wahnsymptome bei einer fortgeschrittenen Alzheimerdemenz.
Ein solches Vorgehen könnte Einblick in die Entstehungsmechanismen psychischer Probleme ermöglichen. Es könnte auch neue Behandlungswege eröffnen. So könnte man zum Beispiel mit einem einzigen Medikament Wahn behandeln, egal ob er bei einer Person mit Schizophrenie, bipolarer Störung oder Alzheimer auftritt.
Dennoch bleibt die Frage: Hilft dieses Wissen, die subjektive Wirklichkeit eines Schizophreniekranken besser zu verstehen? «Anhand von solchen Daten psychische Leiden zu Hirnkrankheiten zu erklären, erspart uns zwar die Mühe, die chaotischen Aspekte menschlicher Erfahrungen zu ordnen», sagt die Suchtexpertin Blithikioti. «Dieser Ansatz übersieht aber eine grundlegende Tatsache: Man kann das ‹Psychische› nicht aus psychischen Störungen herauslösen.»
Weiter ungeklärt: Wie verhält sich der Körper zur Seele?Letztlich spiegelt die historische Trennung von Neurologie und Psychiatrie eine der ältesten Fragen der Menschheit wider: das Verhältnis von Leib und Seele. Lassen sich Ängste, Verzweiflung und Wahn als Produkte neuronaler Prozesse begreifen? Oder entzieht sich das subjektive Erleben einer rein physikalischen Erklärung?
«Es wird vermutlich nie gelingen, eine 1-zu-1-Entsprechung zwischen psychischen und Gehirnzuständen herzustellen», erklärt der Psychiater Paul Hoff. Denn das Psychische besitze eine eigene Qualität, das Persönliche, das Subjektive, das sich nicht vollständig auf neuronale Vorgänge reduzieren lasse. Das Gehirn ist zwar Voraussetzung des Psychischen, es ist aber nicht mit ihm identisch. «Keine Bildgebung, kein Laborbefund, kein Gentest alleine kann feststellen, ob jemand psychisch krank ist. Diese Beurteilung gelingt nur im Dialog mit Patienten, im Verstehen dessen, was der Mensch erleidet und erlebt», sagt Hoff.
Das bedeutet nicht, dass sich Neurologie und Psychiatrie nicht einander annähern werden – und daraus nicht neue Perspektiven entstehen. So zeigte etwa eine Studie, dass die amyotrophe Lateralsklerose (ALS), eine klassische neurologische Erkrankung, und die Schizophrenie gemeinsame genetische Grundlagen aufweisen. Menschen mit ALS haben häufiger als erwartet Verwandte mit Schizophrenie. Dieser Zusammenhang deutet auf gemeinsame biologische Prozesse, die in Zukunft Ziele von neuen Therapien sein könnten.
«Nicht Organe werden krank, sondern Menschen»Ob sich die Lücke zwischen Neurologie und Psychiatrie je ganz schliessen lässt, ist jedoch fraglich. Psychische Störungen sind zu komplex, um sie durch eine einzige Disziplin vollständig zu erklären. «Entscheidend ist, beide Perspektiven anzuerkennen – und nicht zu versuchen, die Psychiatrie auf eine einzige Erkenntnisdimension zu reduzieren», sagt Hoff.
«Weder ist die Psychiatrie ein Teilgebiet der Neurologie, noch ist das Gehirn Nebensache, wie früher vor allem psychotherapeutisch orientierte Fachvertreter meinten», erklärt der Psychiater. Beide Disziplinen müssten diese Spannung aushalten. Denn am Ende gehe es immer um den Patienten: «Nicht Organe werden krank, sondern Menschen.»
Ein Artikel aus dem «NZZ am Sonntag»
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