Tadej Pogacar dominiert die Tour de France, und die Konkurrenz verübelt es ihm nicht einmal – doch Zweifel werden den Sonnyboy des Radsports begleiten


Ben Healy hat die sechste Etappe der Tour de France zwar gewonnen – der grösste Erfolg in der Karriere des 24-jährigen Iren. Während andere Sportler in solchen Momenten den Eltern, der Partnerin, Trainern und dem Team danken, sagte Healy: «Ich bin Tadej Pogacar dankbar, dass er unsere Fluchtgruppe hat ziehen lassen.»
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Pogacar wird am Sonntag zum vierten Mal als Sieger der Tour de France in Paris einfahren. Damit zieht er mit Christopher Froome gleich, der die Grande Boucle ebenfalls viermal gewann. Fünf Siege haben nur Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Miguel Indurain und Bernard Hinault im Palmarès. Pogacar dürfte diesen Rekord irgendwann brechen und neue Massstäbe setzen – vorausgesetzt, er bleibt gesund. Er ist erst 26 Jahre alt.
Der Slowene war schon vor dem Grand Départ in Lille der Favorit und geriet während der dreiwöchigen Rundfahrt nie ernsthaft in Bedrängnis. Er wirkte unantastbar. Das musste auch sein Rivale Jonas Vingegaard einsehen. Pogacar konterte jede Attacke des Dänen mühelos, überspurtete Vingegaard oft. Er siegte nach Belieben – nicht nur in den Bergen, sondern auch auf hügeligen Etappen in der ersten Tour-Hälfte. Vier Etappen hat der Alleskönner an dieser Tour gewonnen, der Konkurrenz blieben nur Brosamen. Sie waren, wie Healy, Sieger von Pogacars Gnaden.
Pogacar gewinnt beinahe noch das grüne TrikotPogacars Vielseitigkeit sorgt sogar für Diskussionen über Regeländerungen. Beinahe hätte er auch das grüne Trikot des punktbesten Fahrers gewonnen – eine Auszeichnung, die früher meist Sprintern vorbehalten war. Viele nennen ihn den «Kannibalen», in Anlehnung an Eddy Merckx, der den Radsport in den 1970er Jahren ähnlich beherrschte.
Wie Merckx gewinnt Pogacar längst nicht mehr nur an Etappenrennen. Während frühere Tour-Sieger sich manisch auf die wichtigste Rundfahrt des Jahres konzentrierten, siegt Pogacar auch an Classiques wie Lüttich–Bastogne–Lüttich oder der Flandernrundfahrt. Beinahe hätte er sich in diesem Jahr auch den Triumph bei Paris–Roubaix einverleibt; ein Rennen, das eigentlich nicht zum feingliedrigen Fahrer passt.
Die Siegchancen für die Konkurrenz werden kleiner und kleiner. Der Ire Healy wurde im Frühjahr bei Lüttich–Bastogne–Lüttich Dritter und fragte den Sieger Pogacar hinterher scherzhaft, wann er zurücktrete. Die Antwort: «Ich habe noch einen Vertrag bis 2030. Also vielleicht dann.»
Die Bezeichnung «Menschenfresser» greift aber zu kurz. Dafür ist Pogacar im Peloton zu beliebt. Das liegt ausser an den Erfolgen an seiner lockeren Art; er ist bekannt für Spässchen. An dieser Tour trieb er auf einer Flachetappe Schabernack mit dem Schweizer Marc Hirschi, das Video davon ging viral. Im vergangenen Jahr täuschte er an der Baskenland-Rundfahrt einen Angriff an, nur um eine Toilettenpause einzulegen, sich hinter einem Gebüsch zu verstecken und auf das nahende Feld zu warten. Und nach dem WM-Titel 2024 in Zürich kokettierte er mit der Erzählung, er hätte fast den Start verschlafen.
Pogacar gibt sich nahbar und bescheidenAbseits der Strasse gibt sich Pogacar als nahbarer Superstar. Den Teambus von UAE verlässt er nicht wie manche Konkurrenten durch die Hintertür, sondern stellt sich dem Trubel. Im Publikum posiert er für Selfies, gibt Interviews, nimmt Präsente entgegen, jüngst überreichte ihm jemand eine Kuhglocke. Pogacar bedankte sich artig. Und dann sagt er Sätze wie: «Ich habe Spass an der Tour de France. Ich liebe das Zusammensein mit dem Team. Wir sind eine grosse Familie.» Dieser Zusammenhalt, nicht Siege, motiviere ihn.
Auch seine Eltern erwähnt Pogacar oft. Sie begleiten ihn an der Tour vom Strassenrand aus – nicht im VIP-Bereich mit Champagner und Häppchen, sondern im Camper: «Seht her, wir sind eine normale Familie geblieben.» Natürlich ist das alles ein sorgfältig gepflegtes Image. Pogacars öffentliche Wahrnehmung unterscheidet sich nicht nur deshalb von jener früherer Dominatoren wie Lance Armstrong oder Chris Froome.
Armstrong reihte zwischen 1999 und 2005 sieben Tour-Siege aneinander, die ihm wegen Dopings aberkannt wurden. Verehrung oder Sympathie erhielt er auch vor seiner Überführung nicht; höchstens Ehrfurcht. Im Peloton war der Amerikaner wegen seines Auftretens verhasst, galt in seiner Mannschaft als Tyrann, schüchterte Teamkollegen und Konkurrenten ein.
Froome war im Feld unbeliebt, weil seine damals übermächtige Mannschaft Sky die Konkurrenz in Grund und Boden fuhr. Über Pogacar hingegen verliert kaum einer ein schlechtes Wort. Er sei ein «netter Typ», «unkompliziert» und «bescheiden», tönt es sogar bei Gegnern.
Sarah Meyssonnier / Reuters
Der Radsport hat einen Superstar, dem nicht einmal die Konkurrenten es übel nehmen, wenn er ihnen reihenweise Siege vor der Nase wegschnappt. Alles eitel Sonnenschein? Mitnichten. Auch in diesem Jahr brach Pogacar in den Bergen Rekorde aus der dopingverseuchten Zeit des Radsports.
Am Mont Ventoux, dem Riesen der Provence, fuhren er und Vingegaard so schnell, dass sie den Gipfel drei Minuten früher erreichten als Marco Pantani 1994. Manche Experten glauben, dass solche Leistungen ohne illegale Hilfsmittel unmöglich sind.
Zu Pogacars Kritikern gehört der frühere Festina-Trainer und heutige Doping-Analyst Antoine Vayer. Er erlebte die dunkelsten Zeiten des Radsports, die im Festina-Skandal 1998 und dem Ausschluss der gesamten Equipe von der Tour gipfelten. Der Franzose bezeichnet Pogacar in Anlehnung an Armstrong als «Pogastrong».
Vor zehn Jahren wurde an der Tour letztmals ein Doper überführtMithilfe von Anstiegszeiten und Körpergewicht berechnet Vayer die Wattzahlen der Fahrer und kommt zu dem Schluss, dass bei Pogacar etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Der beteuert, er sei sauber unterwegs. Wer dem Glauben schenke, sei ein Ignorant oder ein Komplize, sagte Vayer vergangenes Jahr zur «NZZ am Sonntag». Beweise bleibt er jedoch schuldig.
Im Peloton bleibt es ruhig, wenn Betrugs- oder Dopingvorwürfe geäussert werden – auch bei Pogacar. Im Fall Armstrong war das anders, dort wusste jeder, was läuft. Den letzten Dopingfall erlebte die Tour de France 2015. Ist der Radsport sauber? Sind Pogacars Parforceleistungen mit Talent, optimierten Trainingsmethoden, Fortschritten bei Material und Ernährung zu erklären? Vielleicht.
Doch Zweifel werden Pogacar auch in Zukunft begleiten. Trotz aller Bewunderung für seine Dominanz schwebt ein Schreckgespenst über dem Radsport: der nächste grosse Dopingfall.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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