Kolumne: Der Berliner Weg ist keine Einbahnstraße

War Hertha BSC im Sommer 2021 etwa ein Trendsetter, ein Vorreiter für das derzeitige Geschehen in Italiens Serie A? In Mailand, Neapel und Florenz setzt man im Moment auf Altstars, die zuvor viele Jahre in anderen Topligen Europas für Aufsehen, Glamour und Erfolge gesorgt hatten. Dazu aber später.
Es ist vier Jahre her, dass Hertha den damals schon 34-jährigen Kevin-Prince Boateng zurück zu seinem Heimatverein nach Berlin holte. Den hatte der extrovertierte Profi, der eine schillernde Karriere erlebte, 2007 Richtung Tottenham Hotspur verlassen. Die Rückholaktion von Prince, der den Zenit seiner Laufbahn überschritten hatte, löste gemischte Reaktionen aus. Jubel und Hoffnung bei vielen Fans, natürlich nostalgische Gefühle, aber auch Zweifel, ob solch ein Oldie dem Team noch nützlich sein könnte.
Ich musste an die Rückkehr des „Prinzen“, einst das wohl größte Talent der Hertha-Akademie, denken, als ich las, auf welche Altstars Spitzenklubs aus Italien derzeit setzen. Der 34-jährige Belgier Kevin De Bruyne wechselt von Manchester City, wo er sechsmal Meister wurde, zur SSC Neapel. Schon 39 Jahre alt ist Luka Modric, der 188 Länderspiele für Kroatien bestritt und 13 Jahre lang im Mittelfeld von Real Madrid regierte. Er verstärkt ab sofort AC Mailand! Ebenfalls schon 39 Jahre zählt der Angreifer Edin Dzeko, der von Fenerbahce Istanbul nach Florenz wechselt und auf all seinen zahlreichen Stationen für viele Tore gut war.
Hertha-Legende Nello di Martino, 2006 als Teammanager mit der Squadra Azzurra Weltmeister geworden, sagte mir: „Erfahrung zählt sehr viel im italienischen Fußball. Man setzt auf die Mentalität der Oldies. Junge Spieler haben es schwer, auch weil viele Ausländer Stammplätze besetzen. In Deutschland gilt ein Profi mit 35 Jahren im Gegensatz zu Italien schon als alt und oft als Auslaufmodell.“
Kevin-Prince Boateng spielte beim Klassenerhalt 2022 eine wichtige RolleIst die Erfahrung gestandener Profis auch bei Hertha gefragt, nachdem man im Januar 2023 den „Berliner Weg“ als „strategischen Kurswechsel“ verkündete, der die Förderung der Jugend und der Absolventen der Hertha-Akademie in den Fokus stellt sowie die Besinnung auf die eigenen Wurzeln? Beides schließt sich nicht aus. Im derzeitigen Aufgebot der Hertha stehen immerhin fünf Profis, die 30 Jahre oder älter sind: Marius Gersbeck (30), John Anthony Brooks (32), Toni Leistner (35), Diego Demme (33) und Paul Seguin (30). Das konterkariert keineswegs den Berliner Weg. Denn dieser Weg ist ja keine Einbahnstraße.
Zurück zu Kevin-Prince Boateng. In seinem „zweiten Leben“ bei Hertha dominierte er als 34-jähriger Fußball-Globetrotter mit Erfahrungen in europäischen Topligen (Premier League, La Liga, Serie A) auf dem Platz längst nicht mehr wie einst, gab aber in der Kabine den Ton an und riss jüngere Spieler mit. Höhepunkt waren die beiden Relegationsspiele gegen den Hamburger SV im Mai 2022 (0:1, 2:0), in denen Prince aufblühte und der Legende nach – so erzählten jedenfalls Boateng und der Trainer und Retter Felix Magath – sogar die Aufstellung bestimmte.
Auch John Anthony Brooks und Änis Ben-Hatira (37), beides gebürtige Berliner, gehörten einst wie Boateng zur Hertha-Akademie. Als der Abwehrriese Brooks im Sommer 2024 nach sieben Jahren in der Fremde nach Berlin zurückkehrte, lagen viele Hoffnungen auf ihm. Leider verletzte er sich schwer und hofft nun auf baldige Einsätze. Ben-Hatira eifert sogar Modric oder De Bruyne nach – nur eben ein paar Etagen tiefer. Als Kapitän führt der ehemalige Erstliga-Profi Herthas junge Riege U23 in der Regionalliga an. „Von seiner Mentalität können sich alle Jungs eine Scheibe abschneiden“, sagte U23-Coach Rejhan Hasanovic, „für mich ist Änis der Ronaldo der Regionalliga.“ Vor wenigen Wochen wurde Ben-Hatira zu Berlins „Amateurfußballer der Saison 2024/25“ gekürt. Auch das passt zum Berliner Weg.
Berliner-zeitung