Grosse Gefühle, junge Heldinnen, ein haariges Foul – was von der EM bleibt


Michael Buholzer / Keystone
Zahlreiche Frauen teilten in den letzten Wochen eine seltsame Erfahrung: Sie mussten plötzlich weinen. Nicht nur Lia Wälti, Schweizer Captain, die immer wieder Tränen in den Augen hatte, weil endlich vieles in Erfüllung ging, was sie sich erträumt hatte. Sondern auch Frauen, die zum ersten Mal in einem Stadion waren. Fussball war für viele von ihnen Männerfussball gewesen, Terrain, das ihnen nicht gehörte, eine Party, an die sie nicht eingeladen waren. Und jetzt waren plötzlich überall Frauen: Spielerinnen, Schiedsrichterinnen, Trainerinnen, Fernsehkommentatorinnen, Zuschauerinnen. Das hat viele bewegt.
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Plötzlich Zugang zu haben, ist kraftvoll. Und es hat Hoffnung gemacht in einer Zeit, in der sich viele Frauen gesellschaftlich zurückgeworfen fühlen. «Der Gipfel der Emotionen» bleibt ein platter PR-Slogan. Aber für einmal hatte er etwas Wahres. Die letzten vier Wochen waren ein Gefühlssturm. Und der hatte nichts zu tun mit Sieg oder Niederlage.
Tore, Tore, Tore: warum so oft getroffen wurde wie nie zuvorÜber mangelnde Unterhaltung kann sich niemand beklagen. 104 Tore wurden an dieser EM in 30 Spielen erzielt, das sind 3,47 Treffer pro Partie. Vor drei Jahren waren es vor dem Final 92 gewesen, was durchschnittlich 3,066 Goals pro Spiel bedeutet.
Heisst das nun, dass die Stürmerinnen so viel besser geworden sind? Oder lahmen die Verteidigungen? Was man sagen kann: Die Spielerinnen haben physisch und technisch zugelegt – und sind besser darin geworden, aus praktisch allen Situationen Tore zu erzielen. Auch taktisch sind die Teams gereift, was sich allerdings weniger in der Defensive auswirkt. Das ist der interessante Unterschied zum Männerfussball: Dort konnten irgendwann alle Mannschaften gut verteidigen. Dafür herrscht im Sturm oft Flaute. Umgekehrt ist besser.
War vor der EM ein Fanmarsch angekündigt, brachte sich die Polizei schon einmal in Stellung. Fanmärsche galten als Zusammenrottung gewaltbereiter Klubanhänger, die sich anschliessend randalierend Richtung Stadion bewegten. Nun hat sich der Fanmarsch auch an der Frauen-EM etabliert. Und gilt plötzlich als beliebte Folklore: Fröhliche Menschenmassen sind friedlich zum Stadion gezogen, haben dabei lustige Lieder gesungen und die Städte schön bunt gefärbt. Besonders gefeiert wurde der Schweizer Rekordzug: 25 000 Menschen marschierten vor dem Viertelfinal gegen Spanien vom Bundesplatz zum Wankdorf. Es gab tatsächlich Medien, die ihn per Live-Ticker begleiteten.
So absurd das anmuten mag: Die Umdeutung des Fanmarsches steht exemplarisch für das positive Erleben von Fussball in den letzten Wochen. Die Frauen-EM hat gezeigt, wie anders der Sport und seine Rituale interpretiert werden können: freudiger, friedlicher, gemeinschaftlicher. Man wünschte, es würde abfärben, wenn in diesen Tagen die Männer in die Super-League-Saison starten.
Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft statt eines Sommerflirts? Das könnte auf die Schweiz und den Frauenfussball zutreffen – ganz im Sinne des Legacy-Mottos «Here to stay». Denn die Schweizer verbinden die Emotionen dieses Turniers plötzlich mit Gesichtern und Namen, die ihnen zuvor unbekannt waren. Auf einmal interessiert es mehr als nur Insider, welch schöne Tore Sydney Schertenleib in Barcelona schiesst, wie sich Iman Beney bei Manchester City schlägt oder was Riola Xhemaili zu sagen hat. Ohne das Turnier in der Schweiz mit den allgegenwärtigen Nationalspielerinnen hätte sich dieses Interesse nicht eingestellt.
Auch der Verband hat mit dem Frauenfussball ein nächstes Level erreicht. Natürlich hat er für die EM im eigenen Land zusätzliche Mittel gesprochen, fünf Millionen investierte er in Projekte rund um das Turnier und dessen Vermächtnis. Nun muss er auch nach der EM zeigen, wie ernst es ihm mit der Förderung ist.
Ein Indikator dafür könnte die Personalie der Nationaltrainerin Pia Sundhage sein. Die frühere Welttrainerin überlegt sich, ihr Engagement in der Schweiz zu verlängern. Dafür aber müsste unter anderem eine Sache gegeben sein, wie sie gegenüber SRF sagte: dass ihre beiden Assistenten fest angestellt würden – was auch eine Preisfrage ist.
Um mit dem Vorurteil aufzuräumen, Haarereissen sei ein typisches Frauenfoul, genügt es, sich eine Szene vom Final der Klub-WM anzuschauen. Der PSG-Spieler João Neves wird dort vom Platz geschickt, nachdem er Marc Cucurella von Chelsea an den Haaren gezogen hat. Gleiches geschah dem langhaarigen Cucurella auch schon in der englischen Meisterschaft.
Die deutsche Kathrin Hendrich war mit ihrem Griff in die Haare der Französin Griedge Mbock Bathy also nicht allein. Ausgesprochen peinlich war dann aber ihre Verteidigungslinie: Sie sei mit der Hand in den Haaren hängen geblieben. Echt jetzt?
Unübersehbar ist, dass gewisse Ärgernisse aus dem Männerfussball bei den Frauen Einzug gehalten haben: Denken wir nur ans Zeitschinden der Norwegerinnen im ersten Gruppenspiel gegen die Schweiz. Das gehöre zum Fussball, sagte die Trainerin Gemma Grainger. So argumentieren Zynikerinnen.
Die Nationaltrainerin Pia Sundhage sagte nach der Partie: «Ich bin eine alte Schachtel, die Fairplay mag.» Darüber könnten auch die Zuschauer und Zuschauerinnen kurz nachdenken: Noch nie wurde an einem Frauenturnier so ausdauernd gebuht. Phantasielos.
Georgios Kefalas / Keystone
Regelmässig leuchtete auf den Bildschirmen der Schweizer Stadien eine Zahl auf, jedes Mal stand sie für einen Rekord: zuerst für die höchste kombinierte Zuschauerzahl in einer EM-Gruppenphase, dann für die höchste in den Viertelfinals. Noch vor dem Final ist die Gesamtbestmarke aus England 2022 gefallen, 623 088 Menschen besuchten die bisherigen 30 Spiele, das ergibt einen Rekorddurchschnitt von 20 769 Zuschauern pro Spiel. Bloss das Ziel eines ausverkauften Turniers wurde nicht ganz erreicht – dafür fehlten im Schnitt rund 460 Zuschauende pro Match.
Auch im Schweizer Fernsehen haben noch nie so viele Menschen dem Fussball der Frauen zugeschaut. Bei SRF verfolgten bis zu 956 000 Personen den Viertelfinal der Schweiz gegen Spanien, das entspricht einem Marktanteil von 76,5 Prozent.
Grossen Zuspruch findet das Turnier auch in Deutschland, das sich für die nächste EM 2029 bewirbt. Das Aus im Halbfinal gegen Spanien sahen sich in der ARD durchschnittlich 14,261 Millionen Menschen an. Das ist ein Marktanteil von 57,6 Prozent und Platz zwei auf der ewigen Frauenfussball-Rangliste im deutschen Fernsehen. Den Rekord hält der EM-Final 2022 zwischen Deutschland und England mit knapp 18 Millionen Zuschauern.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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