Die umstrittene Nationaltrainerin Montserrat Tomé kann Spaniens Frauen im Final gegen England den ersten EM-Titel bescheren


Sie ist eine strenge Erscheinung. Gross und dünn, fast hager wirkt Spaniens Nationaltrainerin Montserrat Tomé, wenn sie in dunklem Anzug und weisser Bluse am Seitenrand steht, das Haar akkurat nach oben gekämmt, der Blick verkniffen, geradezu finster. Man könnte sich die 43-Jährige aus Spaniens Wiege Asturien glatt in einem Gemälde von El Greco vorstellen oder von Goya, beide Meister der Düsternis.
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In der 113. Minute des Zürcher EM-Halbfinals gegen Deutschland aber gab es eine andere Tomé zu sehen. Gelöst bejubelte sie den spektakulären Treffer von Aitana Bonmatí, lief inmitten euphorischer Spielerinnen zunächst sogar mit auf den Rasen. Wenig später war mit dem 1:0-Endstand ihr bisher grösster Sieg besiegelt. Man mag erahnen, was er ihr auch persönlich bedeutete. «Ich fühle mich erfüllt und glücklich», sagte sie. Am Sonntag geht es im Final gegen England.
Montserrat Tomé Vázquez hatte eigentlich keine Chance – und steht jetzt kurz davor, sie zu nutzen.
Tomé gilt als Erbin der dunklen VergangenheitDie vormalige Assistentin kam im September 2023 während historischer Turbulenzen ins Amt. Ihr Chef, der Weltmeistertrainer Jorge Vilda, war geschasst worden, weil er sich arg nah im Dunstkreis des im Skandal um den erzwungenen Kuss von Jenni Hermoso verurteilten Verbandschefs Luis Rubiales bewegt hatte. Aber auch Tomé wurde eher zum alten Regime gezählt.
In ihrer ersten Amtshandlung berief sie die Spielerinnen gegen deren Willen zum Zusammenzug. Der Sportstaatssekretär musste kommen und für Reformen bürgen, um die Profis überhaupt zum Bleiben zu bewegen. Nur so konnte Tomé ihre Arbeit aufnehmen – begleitet von dem Eindruck, dass eine renommierte Fachkraft von aussen ein weit stärkeres Symbol für Wandel abgeben würde als sie, die nach dem Ende ihrer aktiven Karriere bei Oviedo, Levante und Barça nur im Verband gearbeitet hatte.
Im Prozess gegen Rubiales (Geldstrafe), Vilda (Freispruch) und andere wurde sie als Zeugin noch einmal mit der Vergangenheit konfrontiert. Tomé blieb so weit wie möglich im Ungefähren – «fad» fand ihre Aussagen der Richter. Sie tut sich bis heute schwer, andere Fragen zu beantworten als solche über Fussball.
Dafür sprach sie durch ihre Nominierungen. Kurz vor dem Gerichtsverfahren bootete sie Jenni Hermoso aus und mit Captain Irene Paredes (die später zurückkehrte) sowie der (Ersatz-)Torhüterin Misa Rodríguez auch zwei Zeuginnen der Anklage. Zur Begründung nannte sie mal den Teamfrieden, mal sportliche Aspekte. Hermoso hielt ihr diese Widersprüche immer wieder vor – und lästerte jüngst, die spanischen Turnierfavoritinnen könnten sich an der EM auch selbst trainieren, «und zwar bestimmt viel besser».
Der Verriss spiegelt eine durchaus interessante Frage: Wie viel Coaching braucht ein Team überhaupt, das sogar unter dem ungeliebten Vilda eine WM gewann, auf die Weltfussballerinnen der letzten vier Jahre – Aitana Bonmatí, Alexia Putellas – zählen kann und mehrheitlich beim FC Barcelona sowieso täglich zusammenspielt?
Andererseits erfordert gerade diese Barça-Übermacht ein gewisses Fingerspitzengefühl bei der Integration einer Nationalelf. Auch scheint, wie früher bei den Männern, der spanische Spielstil mit zunehmendem Erfolg besser studiert und dechiffriert zu werden. Und die plötzliche Topfavoritenrolle ist mental nicht einfach, wenn sie mit einem so überschaubaren Palmarès einhergeht. Vor dem Semifinal hatte Spanien noch nie Deutschland besiegt und noch nie ein EM-Endspiel erreicht.
Vom Hurrafussball zu defensiver SoliditätWer gewinnt, hat recht, und so lässt sich die Tomé dieser EM als gereifte Turniertrainerin charakterisieren. In der einfacheren Vorrunde gab sie eine Carte blanche zum Hurrafussball (14:3 Tore). In der K.-o.-Runde aber liess sie auf Ballsicherheit und damit auch eine erhöhte defensive Solidität umschalten.
Gegen die Schweiz und Deutschland kassierte Spanien in 210 Minuten kein Gegentor; eine erhebliche Verbesserung gegenüber der bisherigen Amtszeit Tomés. An den Olympischen Spielen 2024 mit dem enttäuschenden vierten Platz hatte es in drei K.-o.-Spielen sieben Gegentore gesetzt.
Tomé gelang in der Schweiz zudem ein perfektes Ressourcenmanagement bei den erkrankten Cata Coll und Aitana Bonmatí. Goalie Coll brachte sie erst zur K.-o.-Runde und entgegen vielen Kritikern, die einen so späten Wechsel für zu riskant hielten. Aitana baute sie behutsam über mehrere Spiele ein.
Gegen Deutschland rettete Coll in der letzten Szene der regulären Spielzeit grandios, ehe Aitana in der Verlängerung veredelte. Ihre Chuzpe, den Ball aus spitzem Winkel ins kurze Eck zu jagen, folgte dabei auch einem Hinweis von der Bank. Tomés Trainerteam hatte analysiert, dass die deutsche Torhüterin Berger in solchen Situationen meist auf eine Flanke spekuliert.
Professionelle Rahmenbedingungen und konstruktiver Dialog statt eines autoritären Gehabes: Das waren immer Kernforderungen der Spielerinnen, die sie nun verwirklicht sehen. Tomé selbst bezeichnet sich als «sehr intensiv» und gilt als taktisch detailversessen, weiss als ehemalige Nationalspielerin aber auch, wie wichtig ein offenes Ohr ist. Über die gemeinsame Obsession für den Fussball haben Trainerin und Team zusammengefunden. «Eine sehr angenehme, gesunde Gruppe», sagt Aitana.
Tomés Weiterbeschäftigung nach der EM ist noch offen, ihr Vertrag läuft aus. Wie fast alle bei Spanien ist sie geprägt von den Brüchen und Umbrüchen der letzten Jahre. Wie keine andere kann sie mit einem EM-Finalerfolg weitere Vorbehalte abstreifen. Montserrat Tomé steht in Basel vor einem ungeahnten Happy End.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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