Die Pionierinnen des Frauenfussballs: Zum EM-Auftakt treffen die Schweizerinnen auf Norwegen


Norwegen, Island, Finnland: Die EM-Vorrunden-Gegnerinnen der Schweiz kommen allesamt aus dem Norden. Zusammen mit Schweden und Dänemark sind die nordischen Länder komplett vertreten, was ihre Stärke und Bedeutung für den Frauenfussball unterstreicht. Die fünf kleinen Länder – Schweden hat 10 Millionen Einwohner, Island 390 000 – fordern die grossen Nationen immer wieder heraus, an jeder EM erreichte mindestens ein skandinavisches Land den Halbfinal.
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Schweden gewann 1984 die erste Frauen-EM mit der Torschützenkönigin Pia Sundhage, der heutigen Trainerin der Schweiz. 1987 verloren die Schwedinnen gegen Norwegen, das als neue Grossmacht auch die inoffizielle WM 1988, die EM 1993, die WM 95 und die Olympischen Spiele 2000 gewann.
Skandinavien war Mitteleuropa vorausBereits in den 1970er Jahren etablierten sich im Norden landesweite Ligen mit modernem Modus. Die 1988 gestartete schwedische Damallsvenskan hatte als erste halbprofessionelle Liga Vorbildcharakter – die Bundesliga folgte 1990, die Pendants in England 1991 und in den USA 1995. Das hohe Niveau, professionelles Personal und eine gute Infrastruktur machten die Damallsvenskan jahrzehntelang zur Topadresse, auch für Ausländerinnen.
Brasiliens Superstar Marta spielte mit Ramona Bachmann beim zweifachen Champions-League-Sieger Umea IK, in den 2000er Jahren einer der weltbesten Klubs. Die Erfolge brachten dem Frauenfussball früh viel mediale Aufmerksamkeit. Der schwedische Sender TV4 zeigte bereits 2004 Ligaspiele, zehn bis zwanzig Jahre vor den meisten anderen Ländern. Seither sind Live-Übertragungen Standard, heute auch Konferenzschaltungen mit allen Damallsvenskan-Partien sowie Spielen weiterer Ligen.
Allerdings verrät die Weltrangliste des Weltfussballverbands (Fifa), dass die Nordländerinnen sportlich überholt wurden. Einzig Schweden liegt mit Rang 6 noch in den Top Ten (Dänemark 12, Island 14, Norwegen 16, Schweiz 23, Finnland 26).
Noch deutlicher sieht es auf Klubebene aus, wo die grossen Nationen mit Barcelona, Arsenal, Lyon oder Frankfurt heute dank enormen Investitionen und stärkerer Professionalisierung dominieren. Deren Ligen weisen auch beeindruckende Zuschauerzahlen auf, während im Norden im Durchschnitt – mit beträchtlichen Unterschieden je nach Klub – bloss einige hundert Fans kommen. Zudem sind die Löhne hier deutlich niedriger.
Stars wie Guro Reiten (Norwegen; Chelsea) oder Pernille Harder (Dänemark; FC Bayern) prägen den Sport im Ausland schon lange mit; Schweden, Norwegen und Dänemark gehören zu den sechs Ländern mit den meisten Spielerinnen im Ausland. Ada Hegerberg, die norwegische Starstürmerin des achtmaligen Champions-League-Siegers Lyon, gewann 2018 als erste Kickerin den Ballon d’Or – ein wichtiger Schritt für den Frauenfussball.
Die nordischen Länder zeichnen sich allerdings nicht nur an der Spitze, sondern auch in der Breite aus: Gemessen an ihrer Bevölkerung haben diese Länder weitaus am meisten lizenzierte Fussballspielerinnen (laut Zahlen der Fifa von 2023): In Island sind es 26 pro 1000 Einwohner, in Norwegen 18, in Schweden 13 – während Deutschland, England, Spanien oder die Schweiz alle unter 4 liegen.
Die Gründe für diesen breiten Pool an Spielerinnen sind die hohe Gleichstellung der Geschlechter und die frühe Ausbreitung des Frauenfussballs. Die nordischen Länder führen viele Gleichstellungs-Rankings an, eine Entwicklung, die sich in den 1960er Jahren akzentuierte. Und mit ihr wuchs der Fussball, wie die sporthistorische Forschung zeigt.
Der Einzug der Frauen ins Arbeitsleben im grossen Stil löste den Arbeitskräftemangel; gleichzeitig verstärkte der Feminismus die Forderungen nach Zugang zu anderen von Männern dominierten Bereichen wie Freizeitaktivitäten und Sport. Und der Wohlfahrtsstaat läutete die Tradition staatlicher Gesundheitsförderung ein: Er baut Sportanlagen, in neuerer Zeit auch beheizte Fussballhallen – für alle.
Die Folge: Während Frauenfussball in England und Deutschland unter anderem wegen moralischer Bedenken bis ins Jahr 1970 verboten war, fanden in Dänemark und Schweden bereits ab Ende der 1950er Jahre erste regionale Turniere statt. Das Niveau war schon bald hoch. Die Zeitschrift Femina sponserte ein ambitioniertes Frauenteam, das zu grossen Teilen auch die erste dänische Nationalmannschaft ausmachte. Diese gewann 1970 und 1971 die inoffizielle WM.
Allerdings verlief die Entwicklung auch im Norden nicht reibungslos.
Pia Sundhage tarnte sich als Junge«Die Verbände bremsten zunächst», sagt die norwegische Sportwissenschafterin Bente Skogvang. Wie schon in den 1920er Jahren wurden Bedenken geäussert, Fussball könne die Fruchtbarkeit hemmen, und die Spielerinnen wurden als Lesben verunglimpft.
Pia Sundhage, später eine der erfolgreichsten Schwedinnen, fand als Kind in den 1960er Jahren kein Mädchenteam; sie wurde deshalb als Junge getarnt und spielte in der Bubenmannschaft. Doch der Zeitgeist war nicht aufzuhalten: Zeitungen berichteten positiv über Frauenfussball, die Zahl der registrierten Spielerinnen wuchs schnell in die Zehntausende. Die nordische Erfolgsära begann.
Frauenfussball wurde zur Massenbewegung und ist es geblieben, auch dank einer Vereinskultur, in der grundsätzlich die Partizipation möglichst vieler Kinder Priorität vor der Eliteförderung hat. Zwar betreiben Verbände und Klubs Talentförderung, es gibt diverse Akademien, und in Schweden kombinieren gewisse Schulen den Oberstufenunterricht mit intensivem Sporttraining.
Doch der Spitzenfussball ist in Rückstand geraten im Vergleich zu den Klubs im Ausland, die Gewinne ihrer Männer-Teams konsequent in ihre Frauenabteilungen investieren. In den nordischen Ländern scheinen Klubs und Märkte zu klein, und der Übergang in den Leistungssport im Alter zwischen 16 und 20 gelingt wenigen. Zudem zeigen Studien, dass – trotz hoher Gleichstellung – die Frauen in den Klubs oft hinter den Männern zurückstehen müssen. Deren Fussball bekommt auch im Norden wesentlich mehr Aufmerksamkeit – und damit finanzielle Mittel.
Trotzdem bleibt der Einfluss der nordischen Länder gross. Gerade auch neben dem Spielfeld: im Kampf um mehr Gleichberechtigung. Die Debatte um gleiche Prämien für die Männer- und Frauen-Nationalteams war in Skandinavien laut. Norwegen hat das Problem 2017 als erstes Land gelöst, die Nachbarländer folgten, wobei die Däninnen ihrer Forderung mit einem Streik während eines WM-Qualifikationsspiels Nachdruck verliehen. Die Kluft bei den Löhnen und EM-Prämien des europäischen Fussballverbands (Uefa) verkleinert sich allerdings nur langsam.
«Wir waren Pioniere», sagte Lise Klaveness im vergangenen Jahr, aber jetzt stagniere die sportliche Entwicklung. Die ehemalige Topspielerin ist die erste Frau an der Spitze des norwegischen Fussballverbandes, seit April ist die 44-Jährige zudem Mitglied im Uefa-Exekutivkomitee. Auch sie steht für den Vorbildcharakter der nordischen Länder. Die Anteile an Führungskräften in den Fussballverbänden sind im Norden laut Fifa-Zahlen markant höher als in anderen Ländern. Bei den Schiedsrichterinnen und Trainerinnen ist der Vorsprung in der Frauenförderung jedoch gering.
Ein Ziel in Skandinavien besteht deshalb darin, mehr Frauen als Trainerinnen zu gewinnen und deren Ausbildung zu verbessern, im Amateur- wie im Elitebereich. Dies soll die Förderung des Frauenfussballs weiter stärken – und neue Erfolge zeitigen. Sämtliche EM-Gewinnerinnen seit 1997, alle Olympiasiegerinnen seit 2000 sowie zwei der drei letzten Weltmeisterinnen hatten eine Frau als Cheftrainerin.
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