Werner Tübke im Städel: Für ihn war Zeichnen wie die Luft zum Atmen

Nimmermüde Parteinahme für die Verlierer der Geschichte: Das Städel erhält mit der Schenkung Beaucamp 46 der schönsten Zeichnungen Werner Tübkes. Und stellt sie nun stolz aus.
Es ist nicht leicht, einem Nachgeborenen die Kunst des vor 21 Jahren verstorbenen Leipziger Malers Werner Tübke als des wichtigsten ostdeutschen Künstlers und eines der bedeutendsten gesamtdeutschen zu beschreiben. Die Probleme beginnen schon mit der Stilistik. Ist es ein „um Idealismus bemühter Realismus und anspielungsreicher Historismus“, wie ein berühmter Kunstkritiker definierte? Äußerlich handelt es sich jedenfalls um keinen zeitgenössischen, modisch-modernen Stil; inhaltlich vielleicht schon eher, allerdings ein aus der Zeit fallender und bewusst neben ihr stehender, der Distanz verschaffen sollte.
Die häufig volkreichen Wimmelbilder zehren stark vom Mittelalter eines Bosch und Bruegel des Älteren, vor allem Tübkes Hauptwerk, das in mehr als einer Dekade härtester Arbeit entstandene Bauernkriegspanorama von Bad Frankenhausen mit mehreren unverhohlenen „Garten der Lüste“- und Höllen-Zitaten der beiden.
In den Porträts lernte Tübke viel von der altdeutschen Malerei und von Dürer, die Landschaften sind von der Donauschule Altdorfers inspiriert. Viele wüste und abseitige Darstellungen aber gewinnen durch Aufgriffe der „Drei gottlosen Maler Nürnbergs“, Barthel und Sebald Behams und vor allem des dauerhaft am Übergang von Spätmittelalter zur Renaissance lavierenden Georg Pencz. Da ist es wenig verwunderlich, dass der ebenfalls zwischen zeitweiser Staatsnähe und kritischster Dissidenz pendelnde Tübke, Student, Lehrer und später sogar Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, in einem parteiinternen Papier vom Direktor der Dresdner Museen, Joachim Uhlitzsch, als – wörtlich – „einer der drei problematischsten Künstler der DDR“ diffamiert wurde.

Genauso stark sind in den Bildern aber auch manieristische Einflüsse und Überlängungen sowie aus dem achtzehnten Jahrhundert die Wirkungen Goyas – eine von Tübkes Grafikserien heißt nach dem spanischen Vorbild „Capriccios“. Aus dem zwanzigsten Jahrhundert sind es heterogene Vorbilder wie Dalís Surrealismus, Dix’ Expressionismus, Picassos politische Bilder und die stets etwas marionettenhaft wirkenden Figurinen Carl Hofers, was bei einem Mal-Eleven mit Sozialisation in den Fünfzigerjahren nicht überraschen muss.
Falls dieses Pasticcio unterschiedlichster Stile nun beliebig klingt, soll nicht mit dem Allgemeinplatz „Er schuf etwas Eigenes daraus“ entgegnet werden, vielmehr mit: Der Dreiklang aus oft hart nebeneinanderstehenden stilistischen Zeitsprüngen (die auf altes und lebendig geripptes Vergépapier gezeichneten „Vier Musikanten“ von 1986 etwa würde man instinktiv in die Zeit des Manierismus setzen, die Männer aber tragen bei genauem Hinsehen Schlaghosen), zweitens den ihm jederzeit zur Verfügung stehenden altmeisterlich technischen Mitteln und, drittens und wichtigst, absoluter inhaltlicher Freiheit lässt seine Kunst einzigartig werden.
Ihre Faszination jedenfalls bewahren die Werke bis heute; die Mischung aus immer weiter perfektionierter Technik und nie versiegender Experimentierfreude halten insbesondere seine Grafik frisch, wie nun die heute eröffnende Städel-Ausstellung „Werner Tübke – Metamorphosen. Die Sammlung Beaucamp“ anschaulich belegt. Der wohl beste Kenner Tübkes, beinahe vier Jahrzehnte lang Kunstkritiker dieser Zeitung, schenkte dem Museum 46 der besten Zeichnungen des Künstlers, die noch bereichert werden durch zwei Werke Fritz P. Mayers.
Wohl keiner verteidigte Tübke gegen die anfangs vehemente Kritik eloquenter und inhaltsstärker als Beaucamp, wohl auch keiner verstand ihn durch enge Freundschaftsbande besser. So findet sich in dem übereigneten Konvolut sogar das traumschöne „Mädchen mit Maske“, das fast bis zuletzt auf Tübkes Schreibtisch stand und hinter dem sich in verfremdeter Form Anna Magnani aus des Künstlers Lieblingsfilmen verbirgt.

Die spektakuläre Auswahl ermöglicht einen Gang durch Tübkes Œuvre von den Fünfzigern bis in die frühen Zweitausenderjahre, entlang seiner konstanten Zerrissenheit und lebenslangen Parteinahme für die Verlierer der Geschichte, wie die unterlegenen Bauern im Krieg von 1525 oder jene der unausgesetzten sozialen Aufstände von der französischen Revolution bis ins zwanzigste Jahrhundert.
Die Erinnerungsarbeit und sympathetische Parteinahme konnte auch Tote umfassen, derer als Individuen jenseits staatlicher Rituale in der abstrakten Nachkriegskunst lange niemand gedachte, vor allem jene des Holocaust, denen Tübke die langjährige und vielgestaltige Bildfolge „Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze“ als Opfern grausamster Willkürjustiz widmete. In der Gestalt des NS-Richters in roter Robe und Kappe mit grotesk überlängtem Wendehals begegnet wiederum ein doppeltes Pasticcio aus Stilen und Personen: der Hals und die hölzerne Rechts-Roboterhaftigkeit ist manieristisch wie bei Pontormo und Rosso Fiorentino. Im Allerweltsnamen Schulze wiederum fließen all die Freislers, Eichmanns und reue- und skrupellos nach 45 weiter richtenden Landgerichtsräte zusammen.

Außerkünstlerisch interessant ist an dem Zyklus, dass Tübke ihn aus eigenem Antrieb ohne offiziellen Auftrag über einen langen Zeitraum verfolgte; seine Suchbewegung in einem skrupulösen „Denken in Bildern“, wie er einmal seine Beweggründe für die denkbar intensive Auseinandersetzung mit diesen potentiell unabschließbaren Themen nannte, äußert sich in einer uneindeutigen, wenig narrativen Formsprache mit chamäleonartigen Wandlungen des Protagonisten.
Dieses permanente Metamorphotisieren zieht sich bis hinein in seine Selbstbildnisse, die er weniger als klassische Einzeldarstellung denn als Cameo-Auftritte in Menschenmengen anlegt. Auf der wimmelnden Federzeichnung „Straße in Brüssel“ von 1965 à la James Ensor steht er aufrecht in der Mitte des Blattes mit vielen zu Masken erstarrten Gesichtern, während sein Kopf nervös vibrierend in mehrere Richtungen gleichzeitig zu blicken scheint. Auch der „Harlekin am Strand“ aus dem selben Jahr ist ein verkapptes Selbstbildnis, und selbst vor dem Hineinprojizieren in einen Toten schreckt er nach der 1962 angetretenen langen Reise durch die Sowjetunion und ihre Südrepubliken in „Beerdigung in Samarkand“ nicht zurück.

In vielen der ausgestellten Fälle erweist sich erneut, wie Bilder durch das Integrieren anderer und alter starker Bilder noch kräftiger werden. Wie eigenständig und keinesfalls nur als Studie anzusehend etwa sein 1957 nach dem Ungarnaufstand gezeichneter Lynchmord in „Weißer Terror in Ungarn“ durch die Aufnahme mittelalterlicher Martyrien und selbst durch die Transformation des Rads der einst erfolglos geräderten heiligen Katharina in Form eines Duchamp’schen Fahrrad-Rads wird, ist, steht man vor dem Blatt, erstaunlich.
Die „Capriccios“ erzählen weniger als bei Goya, zumindest kryptischer, wenn beispielsweise in „Einhorn wird erschlagen“ von 1980 dem Fabeltier aus unbekannten Gründen übel mitgespielt wird. Ohnehin geht keine seiner autonomen Zeichnungen passgenau in einer einzigen Erklärung auf, auch wenn die Werke manchmal Triebkräfte erahnen lassen, wie etwa die wiederum sehr mittelalterliche „Heimkehr verlorener Kinder“ nach der Scheidung von seiner ersten Frau und dem schmerzlichen Verlust des eigenen Nachwuchses entstanden sein dürfte.

Auch das ikonische und eine ganze Flut von Ikarus-Bildern der Kunst in der DDR auslösende „Ikarus über dem Witoscha- Gebirge“ von 1980 darf politisch gelesen werden, ohne dass es dadurch monothematisch eingepfercht würde: Im antiken Thrakien und heutigen Bulgarien gelegen, wohin ihn ebenfalls eine wichtige Reise führte, stürzte über besagtem Gebirge nicht Ikarus als Sinnbild hochfliegender und tief gestürzter sozialistischer Hoffnungen ab, sondern wurde Spartacus geboren, der laut DDR-Althistorie als hochgejazzter präkommunistischer Arbeiterführer des Altertums hingerichtet wurde, wohl aber beim Aufstand fiel.
All die Gemarterten und Vergessenen in Tübkes geschichtspessimistischem Welttheater der Seinsdeutung verbindet jedoch eines: Mit mehr Hingabe hat kein Zeitgenosse sie verewigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung