Die AfD im Selbstversuch: Der politische Gegner soll nicht gegrillt, sondern gekocht werden

Die Provokation ist ihr Prinzip, der Tabubruch ihr Werkzeug. Mit dieser Strategie hat sich die AfD ins Zentrum der Debatte manövriert. Wo andere rote Linien sahen, sah die AfD eine Chance zur Profilierung. Doch die Mechanik des politischen Krawalls scheint ins Stottern geraten zu sein. Nach dem Höhenflug im Bundestagswahlkampf und dem besten Ergebnis ihrer Geschichte sind die selbsternannten Systemkritiker verstummt. Ein seltener Moment, den ihre politischen Gegner zu nutzen wussten.
Erst stufte der Verfassungsschutz die AfD als gesichert rechtsextrem ein, dann wurde das dazugehörige Verfassungsschutzgutachten veröffentlicht, zuletzt verständigte sich die SPD darauf, ein AfD-Verbotsverfahren vorzubereiten. Und zu allem Übel ist auch noch ein Streit um das Schlagwort Remigration entbrannt, der einen Keil zwischen Teile der Partei und das rechte Vorfeld zu treiben scheint.
Nun ringt die Partei um eine neue Strategie. Das passende Schlagwort wurde schon gefunden: Mäßigung. Doch für eine Partei, deren Aufstieg, insbesondere in Ostdeutschland, auf Radikalität und klarer Abgrenzung zu den „Altparteien“ beruhte, ist ein abrupter Kurswechsel riskant: Wie lässt sich der Ton zivilisieren, ohne die eigene Basis zu verlieren? Oder ist Mäßigung am Ende des Tages nur der nächste Schachzug in einem Spiel mit doppeltem Boden?
„Die AfD hat die Remigration aus ihrem Grundsatzprogramm gestrichen“Am vergangenen Wochenende haben sich die Ereignisse überschlagen. In einer Chatgruppe der AfD-Fraktion des Nachrichtendienstes Telegram wurde es hektisch. „Die AfD hat die Begriffe Remigration und deutsche Leitkultur aus ihrem Grundsatzprogramm gestrichen“, hieß es dort. Kopfschüttelnde Emojis folgten als Reaktion auf das, was die Bundestagsfraktion auf ihrer Klausurtagung, die zu diesem Zeitpunkt noch in vollem Gange ist, den Gerüchten zufolge beschlossen hatte. War das wahr, oder versucht der „politische Gegner“ Unruhe zu stiften?
Kurz darauf berichteten auch die „Mainstreammedien“. Die Bild-Zeitung titelte: „Kampfbegriff gestrichen! AfD trennt sich von ‚deutscher Leitkultur‘.“ Für die Mitglieder diverser Chatgruppen kaum zu glauben. Fassungslosigkeit macht sich breit, die am Abend in Erleichterung umschlägt. „Es hat sich wohl um ein ‚Arbeitspapier‘ gehandelt. Das sind gute Neuigkeiten, zeigt aber auch, dass es nach wie vor Strömungen in der AfD gibt, die ein CDU-Anbiedern als geeignete Strategie ansehen“, schreibt ein Nutzer.
Ein Satz, der mit Blick auf den Strategiewechsel, den die Alternative für Deutschland erst langsam und nun immer rasanter vollzieht, ein Dilemma offenbart: Denn wer jahrelang auf Konfrontation setzt, kann sich nicht ohne weiteres der politischen Mitte nähern, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren und einen Teil der Basis zu opfern.
Bereits im März, als Co-Parteichef Tino Chrupalla ankündigte, seine Partei werde in der kommenden Legislatur einen gemäßigten Ton anschlagen, wurde der Wechsel von Krawall auf Mäßigung in die Wege geleitet. Die von Maximilian Krah angestoßene Debatte rund um die „Remigration“ markierte den nächsten Schritt, der jedoch für deutlich mehr Gegenwind im eigenen Lager sorgte.

Im Juni schlug Maximilian Krah in einem Gespräch mit dem rechten Verleger Götz Kubitschek Alarm. Angesichts eines drohenden Parteiverbots plädierte er dafür, den Begriff „Remigration“ fallen zu lassen, obwohl er selbst maßgeblich zu dessen Verbreitung beigetragen hatte. Eine Kurskorrektur, die im rechten Vorfeld als „Überschreiten feuerroter Linien“ bewertet wird. Die Sorge wächst, die Partei könnte schrittweise zur nächsten „Altpartei“ werden. Angepasst, entkernt und ihrer ursprünglichen Agenda beraubt.
Stunden gehen ins Land, in den Chatgruppen wird es ruhiger. In der abschließenden Pressekonferenz betonen die beiden Parteichefs, Alice Weidel und Tino Chrupalla, dass die Leitlinien der Partei unverändert bleiben.
Was will die AfD wirklich?Es gebe eine klare Vorstellung von Remigration, an der weiterhin festgehalten wird: „Remigration umfasst alle Maßnahmen und Anreize zu einer rechtsstaatlichen und gesetzeskonformen Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer in ihre Heimat. Die AfD unterscheidet nicht zwischen deutschen Staatsangehörigen mit und ohne Migrationshintergrund.“ An dieser Definition hält die Partei seit 2024 fest.
Somit bleibt alles beim Alten, und die Berichterstattung über einen beschlossenen Verhaltenskodex und besagten Strategiewechsel ist ebenso falsch wie die Streichung zweier zentraler Begriffe?
Während die mediale Debatte Fahrt aufnimmt, veröffentlicht das Nachrichtenportal Politico ein internes Dokument, das alle Strategiespekulationen im Keim ersticken soll. Es trägt den Titel „Fraktionsklausur: Einleitung des Strategieprozesses“ und hält, was es verspricht. Auf 55 Seiten wird die kurz-, mittel- und langfristige Strategie der Alternative für Deutschland auf Basis einer detaillierten Analyse der politischen Lage und der vergangenen Bundestagswahl offengelegt.
Offiziell ist das Papier nur ein Einzelvorstoß von Beatrix von Storch – tatsächlich aber bringt es auf den Punkt, was ein wachsender Teil der AfD strategisch anstrebt: Distanz zum völkischen Lager und Anschluss an den „politischen Mainstream“.

Wie dieses neue strategische Denken konkret aussieht, zeigt bereits die erste Seite der Präsentation. Ganz nach dem Motto „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ werden dort ambitionierte Ziele formuliert: „Neue Potenziale erschließen, Akzeptanzumfeld vergrößern, Brandmauer stürzen, Regierungsverantwortung übernehmen.“ Ein Foto des Bundeskanzleramts ziert die linke Spalte des Dokuments. Warum bescheiden bleiben, wenn die Macht zum Greifen nah scheint?
Doch die folgenden Seiten, gespickt mit Diagrammen und Grafiken, zeigen deutlich, wie weit dieser Anspruch von der Realität entfernt ist. Laut einer „Insa Potenzial Analyse“, die erst knapp einen Monat alt ist, können sich 56 Prozent der Bevölkerung „grundsätzlich nicht vorstellen, die AfD zu wählen“. Ein weiteres Diagramm verweist auf eine Umfrage von Infratest dimap. Demnach sprechen sich 68 Prozent der Wahlberechtigten weiterhin gegen eine Regierungsbeteiligung der AfD aus.
Statt flammender Reden will man auf Seriosität und Kontrolle setzenGleichzeitig dokumentiert das Papier einen Stimmungsumschwung in der Verbotsdebatte. Während sich im Januar noch eine Mehrheit gegen ein Verbot der Partei ausgesprochen hatte, ist im Mai 2025 – nach der Veröffentlichung des Verfassungsschutzgutachtens – laut einer Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen mit 48 Prozent eine relative Mehrheit für ein Verbotsverfahren. Nur noch 37 Prozent halten ein AfD-Verbot für den falschen Weg.
Für die Fraktion ein deutliches Signal, der Debatte rund um ein solches Verfahren keine neuen Anlässe zu bieten. Statt flammender Reden im Bundestag setzt man künftig auf Seriosität und Kontrolle.
Damit Klarheit besteht, was darunter zu verstehen ist, hat Stephan Brandner, stellvertretender Bundessprecher der AfD, auf der Fraktionsklausur ein Papier vorgelegt: „Grundsätze für das Verhalten bei Plenarsitzungen.“ Der interne Verhaltenskodex ist als eine Art Leitlinie zu verstehen, an die sich fortan alle Abgeordneten halten sollen.
Der politische Gegner soll nicht gegrillt, sondern gekocht werden. Und irgendwann, so zumindest der Plan, soll die Union eine Garstufe erreicht haben, bei der die Christdemokraten einer Zusammenarbeit zustimmen.
Ziel ist es, die CDU in eine strategische Defensive zu zwingenZur verbalen Taktik gehört aber auch eine gezielte Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Die „Gegensätze zwischen Union und SPD müssen unüberbrückbar gemacht werden“, sodass sich die Gräben vertiefen und „lagerübergreifende Koalitionen“ verhindert werden, heißt es in von Storchs Präsentation. Klassische Themen der Union – Wirtschaft, Energie und Finanzen – soll sich die AfD aneignen, um den „Druck“ zu erhöhen. Ziel ist es, die CDU in eine strategische Defensive zu zwingen. Inhaltlich wie machtpolitisch.
Die CDU soll zum Spielball werden, die Alternative für Deutschland zum Taktgeber. Damit diese Vision Realität wird, sich das Luftschloss ins irdische Kanzleramt verwandelt, will die AfD ihr Wählerpotenzial optimieren. Seit ihrer Gründung konnte die Partei insbesondere Nichtwähler mobilisieren.

Bei der vergangenen Bundestagswahl lag der Anteil an Nichtwählern, die ihre Stimme erstmals der AfD gaben, bei 33 Prozent. Dieses Wählerreservoir, auf das die AfD lange gesetzt hat, droht zu versiegen. Sie hat seit 2013 einen Großteil des Nichtwählerpotenzials für sich abgeschöpft. Auch in diesem Bereich soll der Kurs korrigiert und der Fokus auf vier Wählergruppen gelegt werden: Frauen, Babyboomer, Deutsche mit Migrationshintergrund, konfessionell gebundene Christen.
Aber was heißt das alles? Die Strategie wirkt klar und zugleich ungewiss. Die AfD-Bundestagsfraktion geht vor, die ostdeutschen Landesverbände marschieren zurück. Während in Thüringen weiter unbeirrt an der „Remigration“ als programmatischem Kern festgehalten wird, unterstützt der Berliner Landesverband den neuen Kurs. Die Brandenburger AfD hält hingegen ebenfalls am alten Krawallstil fest, sodass die Partei uneinheitlich, in Teilen sogar widersprüchlich, agiert.
Die einen wittern einen historischen Moment, die anderen einen VerratDoch die Bundesfraktion zieht ihr Ding durch, denn der neue Kurs ist mehr als nur eine rhetorische Justierung. Er ist der Versuch, den Modus der Empörung durch einen Modus der Macht zu ersetzen. Um jeden Preis? Zwischen strategischer Mäßigung und ideologischer Verwurzelung öffnet sich schon jetzt ein Riss, der sich durch die Partei und ihre Anhängerschaft zieht. Die einen wittern einen historischen Moment, die anderen einen Verrat.
Noch beherrscht die Parteiführung den Spagat. Noch lässt sich der doppelte Boden nicht als Falle erkennen. Doch die Frage bleibt: Wie lange lässt sich eine Partei zusammenhalten, deren Basis auf Konfrontation geeicht ist, während die Spitze auf Koalitionsfähigkeit schielt? Mäßigung mag taktisch klug sein, aber ohne Glaubwürdigkeit bleibt sie ein Manöver ohne Ziel. Der nach der Bundestagswahl angestoßene Strategiewechsel ist im vollen Gange und der bislang deutlichste Versuch, die AfD in die politische Normalität zu überführen. Getreu dem Motto: „Deutschland, aber normal.“ Die AfD scheint entschieden zu haben, dass sie selbst mehr wie das heutige Deutschland werden muss, wenn sie mitbestimmen will, was normal ist.
Berliner-zeitung