Analyse der NS-Zeit: Hitler erklären auf 128 Seiten? Ja, geht!

Neue Bücher über Hitler haben stets die Frage im Schlepptau, ob weitere Titel zum Thema nötig sind. Weil das auch die Autorinnen und Autoren wissen, führen viele aus, warum gerade ihr Werk noch notwendig ist; das Rätsel sei ungelöst und das Interesse an Hitler an kein Ende gekommen. Die in Frankfurt am Main lehrende Historikerin Sybille Steinbacher spart sich solche Rechtfertigungen, was damit zu tun haben mag, dass ihr Hitler-Buch als eine Einführung in der Reihe „C. H. Beck Wissen“ erscheint, die laut Verlag „anspruchsvoll, knapp und kompetent“ über die „wichtigsten Gebiete“ informieren soll. Auf 128 Seiten führt Steinbacher durch Hitlers Leben und durch die Geschichte des Nationalsozialismus. Das Buch gliedert sich in die drei Teile: „Aufstieg“, „Macht“, „Hybris“.
Bereits als Schüler neigte Hitler der Alldeutschen Bewegung in Österreich zu. Über Linz gelangte er nach Wien und entwickelt dort ein politisches Bewusstsein. Entscheidend dann der Umzug nach München 1913 und der Erste Weltkrieg, der, wie Steinbacher schreibt, „viele seiner Probleme gelöst“ hat. Dass er – als Schulabbrecher mit geplatzten Studienträumen, vom mütterlichen Erbe und einer Waisenrente lebend – zuvor nichts zuwege gebracht habe, wurde so überdeckt. Schließlich der Beitritt zur Deutschen Arbeiterpartei, die bald zur NSDAP wurde, die Zeit im Gefängnis nach dem Putschversuch, 1925 die Wiederzulassung der NSDAP nach dem Verbot 1923; 1929 der Durchbruch zur Massenbewegung. Für Hitler sei die Partei eine „Weltanschauungs- und Kampfgemeinschaft“ gewesen, die „Antwort auf die Herausforderung von Marxismus und Revolution“.
Ein ähnlicher Ansatz wie Ian KershawWer über Hitler schreibt, ist immer auch mit den Fragen befasst, wie viel Raum man seiner Persönlichkeit geben soll. Steinbacher verzichtet auf unnötige Psychologisierungen oder allzu detailreiche Schilderungen, blendet persönliche Eigenschaften aber nicht aus: „Rechthaberisch, wie Hitler war, entwickelte er zu allem, was er beobachtete, eine feste Meinung.“ Die Frage nach der historischen Bedeutung Hitlers und eine Diskussion des biografischen Ansatzes gehören ebenfalls zum Standardrepertoire der Hitler-Literatur. Steinbacher geht dabei ähnlich vor wie der britische Historiker Ian Kershaw, dessen Ziel es war, „die personalisierte biographische Methode“ und die „Verfahren zum Studium der Gesellschaftsgeschichte und der Strukturen der politischen Herrschaft“ miteinander zu versöhnen. Spätestens im zweiten Drittel entwickelt sich Steinbachers Buch zu einer Gesellschaftsgeschichte. Dass dieser Band von einer Historikerin verfasst wurde, deren Forschungsschwerpunkt der Holocaust und die NS-Herrschaft bilden, hat zahllose Vorzüge, und hier kommen sie besonders zur Geltung. Steinbacher geht nicht in die Falle, eine mit Spekulationen angereicherte Charakterstudie zu verfassen. So zeigt sie in wenigen Sätzen, wie es zum Massenmord an den europäischen Juden kam. Es geht in ihrem Buch eben nicht nur um einen „skrupellosen Gewaltpolitiker“, sondern sie rekapituliert den Kontext, den „stillen Verfassungswandel“, die Kriegsvorbereitungen, den Umgang mit Polen als erstem „Kolonialgebiet“ des Deutschen Reichs, den „kolonialen Raubkrieg“ gegen die Sowjetunion, die Judenverfolgung, den Holocaust.

Seit je gelangt fast jedes Buch über Hitler früher oder später zu der Frage, wie seine Rolle zu bewerten sei, wie groß sein Spielraum war und ob ohne Hitler alles anders gelaufen wäre. Das ist müßig. Es gab ihn nun einmal. Aber er war nicht allein. So schreibt die Autorin mit großer Klarheit: „Hitlers Fanatismus ist eine notwendige, aber keine hinreichende Erklärung für die Entfesselung des Völkermordes an den Juden und die exzessive Gewalt auch gegen andere Gruppen. Ideologische, wirtschaftliche und politische Faktoren spielten ebenfalls eine zentrale Rolle. Eine auf Hitler konzentrierte Perspektive erschließt das nicht und liefert auch keine Erklärung für die Verbreitung des Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung.“ Auf dieser Linie beschreibt sie die Machtübergabe: Es sei kein Staatsstreich, kein Bürgerkrieg, keine Revolution, keine Machtergreifung gewesen, „die Macht wurde Hitler buchstäblich übertragen, und dies nicht aus Zufall: Es war gewollt“.
Ja, man kann was aus dieser Geschichte lernenOb man nun aus der Geschichte lernen kann oder nicht, für den Umgang mit Rechtsextremismus kann man aus diesem Buch schließen: anbiedern, einhegen wollen, kooperieren, Zugeständnisse machen bringt nichts. Das zeigt Steinbacher einmal mehr und in aller Deutlichkeit. Das kann man nun einfach wissen.
Steinbachers Buch ist ausgezeichnet geschrieben, mit Tempo, ohne zu dicht zu sein; kurze Sätze scheut sie nicht. Natürlich gibt es eine große Vielzahl von Hitler-Biografien. Sie haben ihre jeweiligen Vorzüge und Schwächen. Steinbacher reiht sich hier nicht ein; das dürfte auch gar nicht ihre Ambition sein. Genre und Format sind andere, und die Kunst, auf wenigen Seiten ein großes Thema so überzeugend zu bearbeiten, kann man gar nicht hoch genug schätzen. Vielleicht ist der schmale Band sogar die bessere Lektüre, um einen zuverlässigen Überblick über die „Geschichte eines Diktators“ und über den Forschungsstand zur Geschichte des Nationalsozialismus zu bekommen.
Isabell Trommer ist Politikwissenschaftlerin und Geschäftsführerin der Hamburger Edition.
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