Eine Dose Punk!

Diese Kolumne gibt es nur, weil ich kürzlich in einem Wirtshaus ein Weißbier für 7,20 Euro getrunken habe. Ganz schön teuer, dachte ich, selbst für München, und wenn man sich nicht ausrechnet, dass man gerade ein Bierchen für umgerechnet mehr als 14 Mark bestellt hat. Jedenfalls versuchte ich, jeden Schluck zu genießen, als meine Gedanken abschweiften, wie so oft in die Vergangenheit, tief hinein ins vergangene Jahrhundert. Und auf einmal war da dieses Lied, nein, diese Hymne: »Der Weg zum Aldi-Markt ist nicht weit. Und ich bin sofort bei dir. Für 10 Mark zieh ich mir ’ne Palette rein vom hirnwegfetzenden Bier.« Schon mal gehört? Ist von der Hamburger Punkband Slime. Eine Hommage an Karlsquell-Pils, das Aldi-Billigbier aus den Achtzigern, das in der Punk-Szene Kultstatus genoss, weil eine Dose 49 Pfennig und ab Anfang der Neunziger – die Inflation war offenbar noch nicht erfunden – nur noch 45 Pfennig kostete. Ein Mensch, der auf Zukunft eher keinen Bock hatte, konnte also tatsächlich für einen Zehner plus Kleingeld eine Palette mit 24 Dosen erstehen, um sich einen Tag lang aus der Wirklichkeit zu verabschieden.
Als das Lied 1981 rauskam, war ich sechs, und auch danach war ich kein Punk, aber ich erinnere mich an den Tag, an dem ich beschloss, einer zu werden. Es war Ende der Achtziger, als ich an einem öden Kleinstadtsonntag einen alten Klassenkameraden traf, der in der Schule so verhaltensauffällig gewesen war, dass ihn seine Eltern in ein Klosterinternat gesteckt hatten. Ich hatte ihn ein Jahr lang nicht gesehen. Und ja, offensichtlich hatte er sich tatsächlich gewandelt – leider anders als erhofft. Er trug jetzt einen abgewetzten schwarzen Ledermantel, auf dessen Rückseite er das Atomsymbol gesprüht hatte, außerdem hatte er sich die Haare an den Seiten abrasiert und erzählte von Dingen, von denen ich noch nicht mal gehört hatte. Er drückte mir an jenem Tag ein Mixtape in die Hand. Darauf Songs von Daily Terror, Dead Kennedys, The Exploited und eben Slime. Ich hörte diese Musik und war aus dem Häuschen. Punk, für mich waren das Die Toten Hosen und Die Ärzte, ein bisschen Trotz, ein bisschen Party, aber nun würde alles anders werden, echte Wut statt Kinderkram, ich fühlte mich eingeweiht und erleuchtet.
Dass kein Punk in mir steckte, zeigte sich einige Wochen später. Statt es einfach zu machen, fragte ich meine Eltern, ob sie was dagegen hätten, wenn ihr Sohn ab sofort mit einem blauen Irokesenschnitt durch die Gegend liefe. Ihre Antwort war unmissverständlich: »Du spinnst wohl ein bisschen! Kommt nicht infrage!« Und das war’s auch schon fast wieder mit meiner Punk-Karriere, freilich schnitt ich noch eine Weile Löcher in meine Wollpullover und ließ meine Haare verfilzen, aber in die Klavierstunde ging ich trotzdem fleißig und meine Lateinnoten waren auch ein bisschen zu gut.
Ich habe keine Ahnung, wie Karlsquell schmeckt, wahrscheinlich: grauenhaft und abgestanden. Ich betrank mich schon, aber abends in der Kneipe, nicht tagsüber an Bahnhofsplätzen, und bei Aldi war ich auch nie. Ich war kein Rebell, ich hatte auch keinen Grund dazu, und wenn ich doch mal eine Grenze überschritt, tat es mir am nächsten Tag leid. Doch in meiner Fantasie ging es hoch her, die Lieder hörte ich mit ohrenbetäubender Lautstärke und wenn niemand in der Nähe war, grölte ich sogar mit: »Ich brauch’ dich, am liebsten jeden Tag, denn du päppelst mich auf, wenn ich down bin. Ich glaub’, es ist der Alkohol, den ich an dir mag, mit dir hat das Wochenende einen Sinn« – solche Zeilen fand ich grandios, aber ein sinnvolles Wochenende verbrachte ich auf dem Tennisplatz, danach ging es in die Badewanne und in die Dorfdisco, von der mich mein Vater vorsichtshalber abholte – »Punkt Mitternacht an der Telefonzelle«.
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