Ostdeutschland | Wolfgang Engler: Eine »Bravo« nur für sich allein
Begegnet sind wir uns das erste Mal im WATT, der bekannten Kneipe in Berlin-Prenzlauer Berg. An der Boxernase habe ich ihn erkannt: Wolfgang Engler. Beide wollten wir am Tresen Bier holen, und einer von uns beiden drängelte sich gerade vor. Engler hatte wohl schon immer diesen durchdringenden Blick, von einem, der keinen Spaß versteht. Also setzte ich noch einen drauf: »Sach mal, bist du nicht der neue Erich Honecker?« – »Aber ja, das bin ich!«
Der Angesprochene regierte kein Land, dafür aber immerhin die Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Gegen Engler lief damals eine Protestwelle. Als Rektor fungierte er zugleich als Chef des »bat«, des Berliner Arbeiter-Theaters, der hochschuleigenen Bühne für die Inszenierungen seiner Studenten. Eben dieses bat-Studiotheater durfte im Sommer 2017, nach zwei Jahren Umbau, aus Berlin-Weißensee wieder zurück an die alte Spielstätte nahe dem Wasserturm in Prenzlauer Berg. Doch dann der Skandal: Für die anstehende Feier hatte einer der noch lebenden Gründer – nennen wir ihn Wolf Biermann – erst keine und dann keine richtige Einladung erhalten. Und das, nachdem er 1963 dort Hausverbot erhalten hatte! Der tapfere Barde war wieder ausgesperrt worden. Und wie 41 Jahre zuvor hatte sich Protest gemeldet, eine Petition, initiiert und unterschrieben von so herausragenden Persönlichkeiten wie Ines Geipel und Freya Klier. Wolfgang Engler aber zeigte sich stur. Sodass ich jetzt am Tresen rief: »Mehr Bier, Mann!« Er lachte. »Komm an unsern Tisch.« Und das tat ich, die nächsten Jahre …
»Armut ist kein gesellschaftliches Konstrukt, sondern für die Betroffenen eine bittere Erfahrung.«
Wolfgang Engler
Als Philosophen habe ich Wolfgang Engler immer bewundert. Bekannt geworden mit Büchern wie »Die Ostdeutschen als Avantgarde«, hat er den gesellschaftlichen Diskurs um manche Impulse bereichert.
Bis heute haben wir zur DDR keinen praktikablen Herrschaftsbegriff. Begriffe wie »Unrechtsstaat« oder »Fürsorgediktatur« haben sich (zumindest bei den Ostdeutschen) nicht durchgesetzt. Wolfgang Engler spricht von einer »arbeiterlichen Gesellschaft« – immerhin ein Vorschlag. Die propagierte Führungsrolle der Arbeiterklasse habe zu einer sozialen und kulturellen Dominanz der Arbeiter geführt, welche die ostdeutsche Gesellschaft prägte, ganz im Unterschied zur Mittelschichtgesellschaft der Westdeutschen.
In seinem neuen Buch »Brüche. Ein ostdeutsches Leben« schreibt der heute 73-Jährige: »Der erste und letzte ›Arbeiter- und Bauernstaat‹ auf deutschem Boden legte die politische Macht niemals in die Hände jener, auf die er sich berief. Aber er bot Frauen und Männern aus dem ›Volk‹ Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, die den Mangel an elementaren Freiheiten zumindest teilweise kompensierten.« Ein Satz, den der Soziologe Steffen Mau für die späten 1980er Jahre bestreitet. Die DDR-Gesellschaft war festgefahren; die alten Männer saßen ja nicht nur im Politbüro.
Für meine Generation war die große Aufstiegserzählung nur noch ein Gerücht. Wir steckten fest im »Flaschenhals zum Hochschulzugang« (Steffen Mau). Über meinen Bürojob bei der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik wäre ich wahrscheinlich nie hinausgekommen. Und weil die Jugend nicht mehr diese intensive Bindung an den Staat hatte, haben im Sommer ’89 auch so viele über Ungarn »rübergemacht«. Eben darüber haben wir im WATT geredet, die Gruppe um Engler, dass die DDR zu verschiedenen Zeiten verschieden war.
Wolfgang Engler, geboren 1952 in Dresden, hatte noch andere Erfahrungen machen können. Inspiriert von der Aufstiegsgeschichte des französischen Schriftstellers Édouard Louis (»Anleitung ein anderer zu werden«), zeichnet er in »Brüche« seinen Lebensweg nach: vom Facharbeiter für elektronische Datenverarbeitung, der auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur nachholt, zur NVA geht, Philosophie studiert, Assistent am Institut für Schauspielregie wird, Karriere macht, um dann eines Tages als Publizist erfolgreich im gesamtdeutschen Feuilleton zu reüssieren.
Der erste »Bruch« aber war ein Diebstahl. Englers Erinnerungen setzen ein mit der Konterbande aus dem Westen. Der vierzehnjährige Wolfgang stiehlt einer Mitschülerin die »Bravo« aus dem Schulranzen, die neuen Leiden des jungen W. »Neid packte mich, allein wegen der großformatigen Poster von Bands, die ich verehrte.« Eine solche Gier versteht nur, wer seine Kindheit und Jugend in »Gottes geliebter Ostzone« hatte, wie der Theologe Karl Barth dieses Land liebevoll nannte. »Bravo«-Hochglanzposter, zu meiner Zeit waren es Kajagoogoo und Limahl (also nichts, worauf ich heute stolz bin), wurden in der Schule für viel Geld gehandelt. Der junge Wolfgang Engler aber besaß eine ganze »Bravo« für sich!
Unlängst habe ich ihn angerufen, wollte mit ihm über seine kriminelle Vergangenheit reden und wissen, welche Band ihn damals so begeistert hat. Engler lachte. Vermutlich die Kinks, aber er weiß es nicht mehr. Immer wieder wollten wir ein Bier trinken gehen, so wie früher. Über die »Dienstagsrunde« im WATT schreibt er auch in seinem Buch: »Es gab kein Thema. Man erzählte, was man in den vergangenen Tagen gehört, gesehen, gelesen, gedacht hatte, stimmte anderen zu oder stritt mit ihnen freundschaftlich, und ging schließlich bereichert nach Hause.« Was wohl auch daran lag, dass es keine dieser typischen Ostrunden war. Keine verbitterten Tresenphilosophen, die ihr persönliches Scheitern allein auf den Westen zurückführten.
An unseren Tisch gesellten sich sogar Journalisten der »Faz« und »Taz«; seine Frau Anna war dabei; ein Theologe; ein Architekturprofessor und nicht zu vergessen: ein Vertreter der »glücklichen Arbeitslosen«. Wir sprachen über Gott und die Welt, die immer komplizierter wurde. Hatte man sich die Zukunft früher in bunten Farben ausgemalt, war diese Hoffnung lange schon vorbei. Das meinte auch Wolfgang Engler: Das Leben kommender Generationen werde kein besseres werden; eine bessere Zukunft hat die Menschheit längst verspielt. Es könne nur noch darum gehen, den Schaden in Grenzen zu halten.
Und natürlich haben wir auch über die Postenjägertruppe der Linkspartei gelästert – was, ehrlich gesagt, ein Thema für den Stammtisch war, das einer gewissen Ironie nicht entbehrte: Wolfgang Engler war einer der ganz wenigen DDR-Kader, die mit der deutschen Einheit nicht ihren Posten verloren haben. Wobei es an Versuchen nicht fehlte, ihm Stasi- und Staatsnähe vorzuwerfen, aber er sollte sämtliche Übernahmen und Überprüfungen überstehen. Später war der Mann sogar der einzige ostdeutsche Rektor einer Hochschule. Einmal, zu fortgeschrittener Uhrzeit, meinte der nunmehr emeritierte Professor Engler: »Die Poststrukturalisten kotzen mich so an.« Alle haben wir gestaunt. Für ein Kneipengespräch war das intellektuell ein wenig überladen.
Dieser Tage habe ich ihn angerufen, wollte wissen, wie er das gemeint hat. Engler erbat sich Bedenkzeit; er klang müde und rief nach einer Stunde zurück. An Derrida, sagte er, Foucault und Lyotard störe ihn, dass immer alles in Diskursen aufgelöst wird, zum Spiel der Zeichen und Symbole wird. Von wegen, es kann so sein und oder auch anders. »Herunter fällt die Faktizität. Armut ist kein gesellschaftliches Konstrukt, sondern für die Betroffenen eine bittere Erfahrung.« Natürlich sei auch das Wort vom Klimawandel ein gesellschaftliches Konstrukt, »und doch brennt es auf der Haut, wenn die Sonne hochsteht«.
Wenn ich noch Fragen habe, wie früher im WATT, soll ich anrufen. Das hörte sich jetzt nicht so an, als ob er sich wie früher mit mir austauschen möchte – über Sahra Wagenknecht, das Trinkverhalten der Junghegelianer oder über die transzendentale Obdachlosigkeit bei Georg Lukács, was weiß ich. Unsere Treffen am Dienstag fehlen mir.
Seit Jahren quält er sich mit einer schweren Depression. Davon und von seinen Klinikaufenthalten erzählt er auch in seiner Autobiografie. Eigentlich hatte ich vor, ihn daheim zu besuchen.
Den Artikel über unsere Begegnung wollte ich beginnen mit den vier schwarzen Ikea-Sesseln, die immer noch in seiner Wohnung stehen – aus DDR-Zeiten. Engler war Reisekader. Was für ein Privileg! Vom Westgeld für seinen Lehrauftrag in Klagenfurt hatte er sich die Möbel gekauft, die er dann im Gepäckwagen der Bahn, mit einem Farbfernseher und dreißig Büchern, über die Grenze schmuggelte. An derselben Uni habe ich heute einen Lehrauftrag. Und was ich dort verdiene, reicht nicht für Stühle bei eBay. Auch darüber hätten wir reden können … So bleibt mir nur sein Buch. Darin erinnert sich der Autor, dass bei den Ostdeutschen zur Begrüßung früher nur der Handschlag üblich war: »Er besticht durch eine Dialektik, die der Umarmung abgeht, fasst Verbindung und Anstandswahrung in einen Akt und lässt offen, wie es dann weitergeht.«
Offen ist auch, wie es mit Wolfgang Engler weitergeht. Aber ich weiß, wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich ihn umarmen.
Wolfgang Engler: »Brüche. Ein ostdeutsches Leben«, Aufbau-Verlag, 347 S., geb., 22 €.
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