Güner Balci über linke Feministinnen, die Kopftücher befürworten: «Das sind für mich Wohlstandsverwahrloste»


Wenn Neukölln international zu reden gibt, dann verhilft dies dem Berliner Stadtteil meist nicht zu Ruhm. Am Tag des Massakers der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 verteilte eine propalästinensische Gruppe hier Süssigkeiten, um den islamistischen Terror zu feiern. An Silvester verwandelt sich das Quartier rund um die Sonnenallee, auch arabische Strasse genannt, jeweils in eine Hölle: Junge Männer, viele mit Migrationshintergrund, greifen Polizisten und Rettungskräfte mit Feuerwerk und Böllern an.
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Das Rathaus von Neukölln liegt nur zwei Parallelstrassen von der Sonnenallee entfernt. Das denkmalgeschützte Backsteingebäude mit seinem in den Himmel ragenden Turm gehört zu den schönsten kommunalen Verwaltungsgebäuden Berlins.
Hier arbeitet Güner Balci als Integrationsbeauftragte. Balci, die auch Journalistin und Filmemacherin ist und mit den Romanen «Arabboy» und «Arabqueen» bekannt wurde, mag diese Bezeichnung nicht. Lieber versteht sie ihre Arbeit als Auftrag, Demokratie zu vermitteln: Diese sei bedroht und müsse verteidigt werden.
Sie denkt dabei vor allem an Frauenrechte. In ihrem Büro hängt ein Poster von «Mona Lisa», deren Gesicht ein Nikab verhüllt. Neukölln habe sich während der vergangenen 35 Jahre radikal verändert durch die Zuwanderung vor allem aus arabischen Ländern, sagt Balci: «Der reaktionäre Islam breitet sich im öffentlichen Raum aus. Er verdrängt liberale, aufgeklärte Muslime – mit der Folge, dass viele Frauen und Mädchen kein selbstbestimmtes Leben führen. Es herrscht eine Geschlechter-Apartheid.»
Erstarkende ParallelgesellschaftenBalci weiss, wovon sie spricht. Sie ist das Kind türkischer Gastarbeiter, die Anfang der 1970er Jahre aus ihrem ostanatolischen Dorf nach Deutschland aufgebrochen sind, um hier ein besseres Leben zu finden. Balci kam 1975 in Neukölln zur Welt. Sie ist ganz in der Nähe ihres heutigen Arbeitsortes aufgewachsen, in einem Wohnblock wenige Gehminuten entfernt. Darüber hat sie ein Buch geschrieben: «Heimatland».
Die Autorin verknüpft darin ihre persönliche Geschichte mit der Geschichte des einstigen Arbeiterviertels, in dem sich immer stärker Parallelgesellschaften herausgebildet haben. Berlin-Neukölln kann heute als sozialer Brennpunkt einer ausser Kontrolle geratenen Migration gesehen werden.
Balci formuliert einleitend ihre Haltung, die eine gelungene Integration erleichtern dürfte: «Deutschland ist für mich das beste Heimatland», schreibt sie. Sie liebe seine Sprache, seine Leute, aber vor allem «seine in der Verfassung garantierten Werte, Menschenwürde, Gleichberechtigung, freie Entfaltung der Persönlichkeit».
Man wirft ihr Rassismus vorDie 50-Jährige hat sich in Migrationsfragen einen Namen gemacht. Sie drehte Filme zum Thema für ZDF und ARD. In Talkshows benennt sie die Probleme mit antisemitischer, homophober und sexualisierter Gewalt durch Zuwanderung und fordert eine Reform des konservativen Islamismus.
In Gastbeiträgen in der «Zeit» oder der «Süddeutschen Zeitung» begründet sie, weshalb sie ihren Töchtern den Besuch von manchen Schwimmbädern in Neukölln verbietet, wo männliche Jugendliche regelmässig randalieren und Mädchen belästigen.
Dafür wird sie angefeindet. Grüne und Linke werfen ihr Rassismus vor und protestierten schon vor fünf Jahren gegen ihre Wahl zur Integrationsbeauftragten in Neukölln. Islamisten drohen ihr. Weil sie Erdogan und die türkischen Nationalisten kritisiert, ist sie auch bei dieser Community verhasst. Sie warnt gleichzeitig vor der AfD und bekommt das von deren Anhängern zu spüren.
Nur wer sich ideologisch nicht vereinnahmen lässt, hat so viele Gegner. «Das gibt mir die grösstmögliche Freiheit», sagt sie.
Wer einwandert, gibt dem Gastland etwas zurückBei aller Besorgnis betont Balci ihre Verbundenheit mit dem Bezirk, der für sie «eine Lebensschule» war. Deshalb schlägt sie einen Spaziergang zu ihrem ehemaligen Wohnquartier vor. Neukölln bestehe nicht nur aus kriminellen Clans. «Die meisten Menschen hier haben den richtigen Kompass trotz dem Erstarken der islamistischen Szene.»
Neukölln hat über 300 000 Einwohner, sie kommen aus 160 Nationen. Die Strassen sind belebt an diesem Donnerstagnachmittag. In Outlets stehen meterlange Kleiderstangen, dicht behängt mit billiger Mode. Shisha-Cafés, türkische Gemüseläden, arabische Konditoreien, die Baklava verkaufen, ein Nussgebäck. Verhüllte und verschleierte Frauen, da und dort ein Imam.
Balci nennt zwei Einwanderungswellen, die zu den heutigen Problemen in Neukölln geführt hätten – diese importierten. Zuerst flüchteten in den 1980er Jahren viele Menschen aus Libanon oder aus Algerien hierher. Sie brachten ein patriarchales Geschlechterverständnis mit: dass nämlich die weibliche Sexualität kontrolliert werden müsse. «Damals sind die Mädchen immer mehr von der Strasse verschwunden.»
Es habe keine Schulpflicht für Kinder gegeben, die Erwachsenen hätten keine Arbeitserlaubnis erhalten, also sei die «archaische Sippenkultur» frei von Einflüssen der deutschen Gesellschaft geblieben, sagt Balci. Zu viele Kinder dieser Generation seien heute einschlägig bekannt in der organisierten Kriminalität. Die Mädchen wurden früh verheiratet und bekamen früh Kinder. Die Heiratspartner suchte man oft im Herkunftsland und brachte sie nach Deutschland.
Die zweite Zäsur datiert sie auf 2015, als über einer Million Asylsuchenden die Einreise nach Deutschland gestattet wurde, unter ihnen vor allem junge Männer aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Viele von ihnen hätten nicht begriffen, dass Einwanderung mit einer gewissen Anpassung an die hier gelebten Werte verbunden sei, sagt Balci. Gleichzeitig werde diesen Menschen die Teilhabe aber auch erschwert, fügt sie an, etwa der Zugang zum Arbeitsmarkt.
Das vollverschleierte MädchenDass man der Gesellschaft etwas zurückgibt, die einen aufnimmt, hatten ihre Eltern sofort verstanden, als sie in den schmucklosen Wohnblock einzogen, auf den Balci nun zeigt. Ihre Mutter war Analphabetin, lernte bald Deutsch und arbeitete als Putzfrau in einem Spital. Der Vater ging in die Fabrik. Er förderte Balci. Für ihn war klar, dass auch seinen Töchtern alle Türen offen stehen sollten.
In ihrem Buch beschreibt Balci, wie sie als Jugendliche in den Mädchentreff Ma Donna ging, der gleich um die Ecke liegt. Hier lernten die türkischen und arabischen Mädchen, dass sie gleich viel wert sind wie ihre Brüder. Schon die kleine Güner war fasziniert von den Frauen, die hier ihre nackten Füsse in Acrylfarbe tauchten, um auf Leinwänden zu tanzen. Später arbeitete sie in dem Verein.
Es gibt den Treff immer noch, fröhlich begrüsst Balci zwei junge Leiterinnen, die Plakate bemalen. Sie lacht über den Zufall. Sie bereiteten sich für eine Demo vor, sagen die Frauen: Man protestiere gegen die drohenden Haushaltskürzungen in Neukölln, von denen auch der Mädchentreff betroffen sein könnte.
Vor einem Café nebenan steht ein Mädchen, keine zehn Jahre alt. Es trägt ein langes Kleid und einen Hijab, ist komplett verschleiert bis auf sein kleines blasses Gesicht. Balci schüttelt den Kopf: «Das ist traurig.»
Im Innern des Cafés sitzen Mütter mit ihren Kindern beim Essen, jede hat ein Gericht mitgebracht, bald sind Sommerferien. Die meisten sind verhüllt. Der Gemeinschaftssinn sei wiederum etwas Schönes in Neukölln, sagt Balci. Man lebe zwar abgeschottet in der Grossstadt, sei im eigenen Milieu aber nie allein. Allerdings sähe man an solchen Anlässen nie Männer. Die Frauen blieben unter sich.
Auch auf dem Spielplatz gegenüber habe sich das Bild verändert. «Früher spielten wir Mädchen zusammen mit den Jungs. Heute spielen sie getrennt.»
Als sie die Grundschule in Neukölln besuchte, sei diese sozial durchmischt gewesen: Die Kinder waren mehrheitlich Deutsche, sie kamen aus Jugoslawien, Griechenland, der Türkei. Deshalb, findet sie, solle man den Vorschlag der deutschen Bildungsministerin Karin Prien (CDU) zumindest diskutieren, die mit einer Migrationsquote den Anteil Einwandererkinder an Schulen begrenzen will.
Das Versagen der LinkenOft regt sich Balci aber über die politische Untätigkeit auf. Die Rückständigkeit bei der Geschlechterfrage, die man hier erlebe, müsste für Politiker eigentlich zuoberst auf der Agenda stehen, sagt sie. «Aber das ist den meisten egal.»
Linke Frauen, «vermeintliche Feministinnen», würden sich lieber über den alten weissen Mann empören, als sich um das Schicksal von Frauen und Mädchen in patriarchalen Kulturen zu kümmern. Im Kopftuch sehen sie eine kulturelle Tradition und kein Symbol der Unterdrückung. Balci nennt sie Wohlstandsverwahrloste.
Aber auch die Medien würden sich für das Recht auf Selbstbestimmung muslimischer Mädchen wenig interessieren: «Stattdessen wird die Frage diskutiert, ob es so etwas wie das biologische Geschlecht überhaupt gibt.» Nicht zum letzten Mal erwähnt sie die kleine verhüllte Gestalt von vorhin: «Diese Mädchen haben keine Lobby.»
Liberale Muslime fördernNoch kämpft sie für sie, aber sie gibt zu: Es braucht viel Idealismus. Nach Lösungen gefragt, nennt sie die Idee der Erwerbseinwanderung. «Man könnte zum Beispiel Frauen in Afghanistan ermöglichen, dass sie über ein Pflegekräfteabkommen nach Europa einwandern, wo sie sich zu Pflegekräften ausbilden lassen und eigenständig erwerbstätig werden», sagt sie. «So liesse sich eine viel strengere Einwanderungspolitik betreiben und auch die illegale Einwanderung bekämpfen.»
Die Förderung von Frauen hier wie dort sei ein Motor für die ganze Gesellschaft. «Wenn man Frauen empowert und sie unabhängig werden, bedeutet dies immer Fortschritt.» Das könne man überall auf der Welt beobachten.
Aber lassen die Männer zu, dass sich ihre Frauen, Mütter und Töchter emanzipieren?
«Es gibt auch die anderen», sagt Balci: «Väter und Brüder, die ihre Töchter und Schwestern in Afghanistan in den Flieger setzen und sie in die Freiheit entschwinden lassen.» Auch in Neukölln kenne sie viele solche Männer. Tatsächlich würden aber viele von ihrer Gemeinschaft mit ihren rigiden Moralvorstellungen unter Druck gesetzt. «Es wird ihnen gesagt, dass es ein Kulturverlust wäre, wenn sie den Frauen zu viele Freiheiten einräumten.»
Deshalb sieht Balci ihre Aufgabe auch darin, diese Männer zu ermutigen und zu unterstützen. Denn wer, wenn nicht sie, kann den Verwandten vor Augen führen, dass es sich mit einer freiheitlichen Gesellschaft nicht verträgt, wenn sie ihre 16-jährige Tochter gegen deren Willen verheiraten. Oder wenn sie sie in der Vollverschleierung verschwinden lassen.
Güner Balci: Heimatland. Berlin-Verlag, Berlin 2025. 320 S., Fr. 37.90.
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