Nur manchmal, wenn die Zeugen den Tätern von Auschwitz ins Gesicht schauen, zeigt sich eine Regung

Peter Weiss hat Augenzeugenberichte und Lügen aus dem Auschwitz-Prozesses von 1963 in Frankfurt destilliert und zum Sprechstück «Die Ermittlung» gefügt. Jetzt ist es im baden-württembergischen Landtag in Stuttgart neu inszeniert worden.
Bernd Noack
«Die Ermittlung» von Peter Weiss ist ein «Stück» über den Auschwitz-Prozess von 1963. Im Vorwort seines Dramas mahnte der Autor, man solle nicht den Versuch unternehmen, für die Aufführung einen Gerichtshof zu rekonstruieren. Peter Weiss erschien «eine solche Rekonstruktion» ebenso unmöglich, wie es die Darstellung eines KZ auf der Bühne wäre.
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Sein Werk nannte er «ein Konzentrat» all der Aussagen und Geschehnisse, der Augenzeugenberichte und Lügen, die im Frankfurter Gerichtssaal verhandelt worden waren. Weiss wollte das Unsägliche nicht bebildern, er wollte nur die Worte zu Gehör bringen, die sich dann bei jedem, der sie hörte, zu eigenen Vorstellungen bilden sollten, bis an die Schmerzgrenze.
«Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen» ist ein Sprechstück, das zu einer szenischen Lesung herausfordert. Die Atmosphäre, das Aussehen des Ortes hat jeder im Kopf, die dramatische Abwechslung ist unspektakulär: in einem Gerichtssaal werden keine Handlungen und Untaten nachgestellt, es wird allein über sie gesprochen.
Realität statt KulisseWenn Burkhard C. Kosminski jetzt mit seinem Stuttgarter Schauspielensemble vom Theater ins Landgericht oder gar in den baden-württembergischen Landtag umzieht, um das Stück zu zeigen, dann umgeht er sehr geschickt das Verdikt des Autors. Er baut sich keine Kulisse, er nutzt die vorhandenen und sinnfälligen Orte: das Parlament, wo die Regierung über die Demokratie wacht, oder den Sitzungssaal, in dem Tag für Tag Recht verhandelt und gesprochen wird.
Zum Spiel in Stuttgart gehört also auch für die Zuschauer die Normalität des gerichtlichen Alltags. Vor dem Saal werden Taschen und Mäntel durchsucht, gefährliche Gegenstände müssen abgegeben werden. Im Vorraum stehen Justizbeamte herum, drinnen nehmen die Zuschauer ihre Plätze ein. Es erscheinen die Zeugen auf der linken Seite, die Angeklagten rechts, es kommen die Richter, die Verteidigerin, der Ankläger. An der Wand hinter ihnen das Landeswappen, kein Kreuz.
Es ist so still im Raum – zwei Stunden lang könnte man Stecknadeln fallen hören. Was berichtet wird, verschlägt einem Sprache und Atem, und lässt keine Sekunde ein Nachlassen der Konzentration zu. Am Ende ist kein Urteil zu vernehmen, das Publikum wird allein gelassen mit einem Satz, der so unausweichlich ins Heute weist, dass die Rückkehr in die Gegenwart wie ein Hieb wirkt: Man solle sich, sagt einer der Angeklagten unwidersprochen, jetzt endlich mit anderen Dingen beschäftigen «als mit Vorwürfen, die längst als verjährt angesehen werden müssen.»
Vor sechzig Jahren wurde «Die Ermittlung» uraufgeführt; verjährt mochten Straftatbestände sein. Die Vernichtung von Menschen in Auschwitz und die Ausschaltung der Moral aber bleiben Tatsachen bis in alle Ewigkeit. Weiss hat sich damals die Arbeit gemacht und ist die Sitzungsprotokolle akribisch durchgegangen. Er hat sich grosse Erinnerungsstücke über das Morden und Leiden herausgeschrieben. Er hat die Ausflüchte und Wahrheitsverbiegungen, das lasche Bereuen und das zynische Selbstretten der Täter notiert, hat das staunende Fragen des Richters, das ungeheure Material des Anklägers eingeflochten in sein Werk über den Prozessalltag, der zwei Jahre dauerte.
Sein Anliegen war es, nichts als Fakten sprechen zu lassen, die persönlichen Erlebnisse und Konfrontationen sollten «einer Anonymität weichen», wie er sagte. Und da meinte er sicher auch sich selbst: Der Autor nahm sich bis zur Unkenntlichkeit zurück, sein Protokoll berücksichtigt gleichwertig Täter und Opfer. Dass diese Authentizität himmelschreiend sein würde, darauf konnte sich Peter Weiss verlassen.
Daran hat sich nichts geändert. Im Stuttgarter Landgericht wird man zum Zeugen deutscher Geschichte. Von all dem noch einmal zu hören, ist beklemmend bis unerträglich, aber am Ende ist Peter Weiss recht zu geben, der haderte mit diesem monströsen Stoff und sich doch entschloss, weil seiner Meinung nach das einzige Mittel gegen «den sinnlosen Schmerz» nur Worte, Bewusstsein und Gedächtnis sein können.
Kosminski macht in seiner Inszenierung nichts falsch. Er und sein Grossaufgebot an Schauspielerinnen und Schauspielern verzichten auf ausgestellte Emotionen. In kühler, quälender Sachlichkeit wird erzählt von Transporten in Viehwaggons, von den Selektionen an den Rampen des KZ, von den katastrophalen Baracken, dem Frass, vom Zerreissen von Familien, vom Inneren der Gaskammern. Die Zeuginnen und Zeugen, dezent gekleidet in der Mode der 1960er Jahre, bringen ihre Erlebnisse in ruhigem Ton vor. Nur manchmal, wenn sie den Offizieren und Aufsehern, den Handlangern direkt ins Gesicht schauen, zeigt sich eine kleine Regung.
Überhebliche SelbstsicherheitDagegen wirken die Angeklagten oft aufmüpfig, wenn ihnen konkret etwas vorgeworfen wird. Doch ihre vagen Einlassungen, die von Wahrheitslücken strotzen, bringen sie mit der überheblichen Selbstsicherheit derer vor, die davon überzeugt sind, mit der Pflicht stets das Richtige getan zu haben. Es gibt in den zwei Stunden nur einen emotionalen Ausbruch. Der kommt ausgerechnet von einem Mann, dem der Offiziersgrad abgesprochen worden ist: Noch im Nachhinein fühlt er sich da in seiner deutschen Ehre gekränkt. Als eine Zeugin sagt, er habe ein kleines Kind mit dem Kopf an die Wand geschmettert, bleibt er dagegen ungerührt.
Es ist dieses eisige Spiel zwischen den einstigen Herrschern und den seelisch gezeichneten Überlebenden, das «Die Ermittlung» zu einem zeitlosen Stück macht. Der Text bleibt ein Beten, ein Flehen in den leeren Raum; das Erhören plant der Autor nicht ein. Wenn er dem Täter und Mörder das letzte Wort lässt, nimmt er gar in Kauf, dass die Anklage zum Gespött werden könnte. Dem Skeptiker Peter Weiss bleibt jedoch die Hoffnung, dass der Nachhall der Worte das Verdrängen übertönt.
nzz.ch