John Lennon vergräbt kein Geld im Wald – In „Therapie für Wikinger“ ist es schwer, an eine Millionenbeute zu kommen

Anders Thomas Jensen ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten des dänischen Kinos. Seit Ende der Neunziger mischt er in der Kopenhagener Filmszene mit. Zunächst als Drehbuchautor etwa für den Dogma-Film „Mifune“ (1999) oder die Gangsterkomödie „In China essen sie Hunde“ (1999).
Mit „Für immer und ewig” (2002) begann die erfolgreiche, kreative Zusammenarbeit mit Regisseurin Susanne Bier. Die beiden waren das Dreamteam des dänischen Kinos und schufen Meisterwerke von bezwingender Dramatik: „Nach der Hochzeit” (2006), „Brothers“ (2009) und schließlich „In einer besseren Welt” (2010), der mit dem Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film ausgezeichnet wurde.
Anker begreift nach seiner Heimkehr aus dem Gefängnis noch nicht die Dimension von Manfreds Persönlichkeitsstörung
Mit Shakespeare’scher Wucht entfesselte Jensen die Konflikte der Figuren, trieb sie in scheinbar ausweglose, moralische Dilemmas und arbeitete mit dramatischer Unerbittlichkeit den menschlichen Kern der Charaktere heraus.
In seinen Regiearbeiten geht Jensen jedoch einen ganz anderen Weg. Mit Filmen wie „Adams Äpfel“ (2005), „Men and Chicken“ (2015) und „Helden der Wahrscheinlichkeit” (2020) hat Jensen mittlerweile sein eigenes Genre begründet, das durch eine oftmals verstörende Skurrilität, tiefschwarzen Humor und unvorhersehbare Gewalteruptionen gekennzeichnet ist.
Dabei sind es oft kaputte Männerseelen, die unbarmherzig unter das Mikroskop geraten, ohne durch ihr oftmals krasses Fehlverhalten alle Sympathien einzubüßen. Auch mit seinem neuen Film „Therapie für Wikinger” bleibt Jensen seinem Erzählstil treu. Nur mal kurz den falschen Namen gesagt und schon springt Manfred (Mads Mikkelsen) aus dem Fenster oder lässt sich aus dem fahrenden Auto fallen.
Der Mittvierziger leidet an einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung und glaubt nicht mehr Manfred, sondern John Lennon zu sein. Sein Bruder Anker (Nikolaj Lie Kaas) tut sich schwer mit der Identitätsstörung. Er ist gerade nach fünfzehn Jahren aus dem Knast entlassen worden. Nun will er an die Millionenbeute des Bankraubs ran, die Manfred damals nahe des elterlichen Waldhauses vergraben sollte.

Aber weil Manfred nun John ist, kann er sich an nichts mehr erinnern. Und so machen sich die beiden ungleichen Brüder auf in den tiefen dänischen Wald, um den verborgenen Schatz zu heben. Das Haus, in dem die beiden ihre Kindheit verbracht haben, wurde verkauft. Die neuen Besitzer, die Amateurboxerin Margrethe (Sofie Gråbøl) und der Jazz-Liebhaber Werner (Søren Malling), vermieten das Nebengebäude als Ferienwohnung und freuen sich auf ein wenig Abwechslung im eingefahrenen Ehebetrieb.
Zum Club der Exzentriker stößt noch der seltsame Psychologe Lothar (Lars Brygmann), der die Welt gerne mit IKEA-Analogien erklärt und einen unorthodoxen Therapievorschlag unterbreitet. Statt darauf zu pochen, dass Manfred wieder Manfred wird, solle man ihm ein funktionierendes John-Lennon-Umfeld anbieten, um in der Sphäre von Akzeptanz die ein oder andere psychische Blockade zu lösen.
Anker sagt Lothar, was er
Widerstrebend lässt Anker, der eher handgreifliche Lösungsansätze bevorzugt, sich auf das Experiment ein. Patienten mit passenden Persönlichkeitsstörungen sind in der landesweiten Psychiatrie-Database schnell gefunden. Der stumme Anton (Peter Düring) denkt, er sei Ringo Starr und Hamdan (Kardo Razzazi) hat als multiple Persönlichkeit praktischerweise sowohl George Harrison als auch Paul McCartney im Identitätsangebot.
Wenn er indes am E-Piano versiert zu klimpern beginnt, verwandelt er sich unverhofft in Björn von Abba, was das Probenprogramm der Therapie-Band erheblich torpediert. Derweil zieht Anker jeden Tag in den Wald, um die Millionenbeute auf eigene Faust zu finden. Aber mit jedem Spatenstich gräbt er sich tiefer in die verdrängte, traumatische Kindheit, die durch die Tyrannei eines gewalttätigen Vaters geprägt war.
Schließlich taucht noch Ankers früherer Komplize Fleming (Nicolas Bro) auf, der vor keinen Foltermethoden zurückschreckt, um an die Beute zu gelangen. „Wenn alle verrückt sind, ist keiner verrückt” könnte das Mantra des Films lauten, mit dem der Regisseur, wie in all seinen Werken, ein großes Herz für die Absonderlichkeiten des menschlichen Wesens beweist. Die Vorstellungen von Inklusion sind herrlich eigen.
Hamdan hat eine multiple Persönlichkeit und ist als Johns Mit-Beatle zuweilen irritiert
Jensen inszeniert mit einem halben Dutzend exzentrischer Charaktere ein ausuferndes Identitätschaos, das sich mitseiner fluiden Dramaturgie am fragilen Seelenzustand der Figuren orientiert. Das ist oft ungeheuer komisch, manchmal grenzwertig schwarzhumorig und unnötig gewaltsam, aber immer nah an der inneren Logik des psychisch instabilen Personals, das von dem herausragenden Ensemble mit unaufdringlicher Präzision verkörpert wird.
Vor allem Mads Mikkelsen überzeugt als introvertierter Albträumer, der sich anders als der Bruder auf seine Weise den gemeinsamen Kindheitstraumata gestellt hat. An der Figur beweist sich, dass die Skurrilität als Stilmittel in Jensens Filmen kein Selbstzweck ist, sondern der Schlüssel zum Tresor einer verstörten Seele.
„Therapie für Wikinger“, Regie: Anders Thomas Jensen, mit Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Sofie Gråbøl, 116 Minuten, FSK 16 (startet am 25. Dezember in den Kinos)
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