Eine Boomer-Regel, die Jüngere missachten: Aber ich folge ihr immer noch

Das Ein-Cent-Stück lag direkt vor der Biomülltonne in unserem Neuköllner Hinterhof. Ich wollte mich schon danach bücken, hatte es dann aber eilig, doch als ich am Abend zurückkam, war es immer noch da. Statt es aufzuheben, ließ ich es liegen. Ich startete eine soziologische Studie. Und wie Sie es sich schon denken können: Der Cent lag auch am Tag darauf noch da, er liegt bis heute. Was ist bloß los mit den Leuten?
Mir wurde als Kind eine Redensart eingebläut, der ich noch heute gehorche: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert. Ein altes Wort, denn diese Münzen gibt es nicht mehr. Angeblich hat schon Martin Luther diesen Satz genannt, nur dass bei ihm der Taler ein Gulden war: Wer den Pfennig nicht achtet, der wird keines Guldens Herr. Aber es stecken dieselben Gedanken drin.
Einer lässt sich mit einem anderen Sprichwort ausdrücken: Kleinvieh macht auch Mist. Will heißen, auch mithilfe kleiner Summen kommen irgendwann größere und große zusammen. Denn wer im Kleinen nicht sparsam ist, der ist es auch im Großen nicht.
Nicht nur die Münzen existieren nicht mehr, sondern auch die mit dem Sprichwort beschworene Haltung scheint auszusterben. Die Demut vor so einer kleinen, fast wertlosen Münze wie dem Pfennig oder heute dem Cent. Meine Kinder winden sich vor Scham, wenn ich an der Supermarktkasse auf Heller und Pfennig das Geld hinlege, das ich zuvor in der Geldbörse zusammengekramt habe. Ich sei ja so ein Boomer, kommentieren sie. Dabei hat meine Anfang des 20. Jahrhunderts geborene Großmutter es genauso gemacht.
Der Pfennigfuchser ist nicht weitAber bei der nächsten Generation scheint Kleingeld in Zusammenhang mit Kleinlichkeit zu stehen. Der Pfennigfuchser ist nicht weit, auch wenn sie das Wort wahrscheinlich gar nicht kennen. Es bedeutet Geizkragen.
Manche Länder haben die kleinen Münzen bereits abgeschafft oder stellen wenigstens keine neuen mehr her, Finnland etwa, Irland, die Niederlande, Italien. Und auch in Deutschland gibt es eine knappe Mehrheit für die Abschaffung von Ein- und Zwei-Cent-Münzen. Vernünftig wäre es, kostet die Produktion doch mehr, als sie wert sind. Nur jetzt zu Silvester haben sie als Glücksbringer Konjunktur.
Aber ich komme nicht von meiner Prägung los. Heute Abend hebe ich die Münze auf, sonst schnappt sie mir noch so ein Boomer vor der Nase weg.
Berliner-zeitung



