INTERVIEW - Oppositioneller in Gaza: «Die Hamas stiehlt den Einwohnern das Essen»


Der Anruf nach Gaza klappt mit zwei Stunden Verspätung – und auch dann setzt die Whatsapp-Verbindung immer wieder aus. Der palästinensische Anwalt Moumen al-Natour ist einer der bekanntesten Oppositionellen in Gaza, seit Jahren kämpft er gegen die Hamas. 2019 gründete er die Protestbewegung «We want to live» mit. Mehrmals wurde er festgenommen, laut eigenen Angaben auch gefoltert. Aus seinem Versteck in Gaza-Stadt stellt er sich für ein Telefoninterview zur Verfügung.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Moumen al-Natour besteht auf einen eigenen Übersetzer, der sich aus den USA zuschaltet. Und auch wir haben eine arabischsprechende Vertrauensperson in der Leitung, die das rund dreiviertelstündige Gespräch mithört.
Herr Natour, die Medien sind voll mit Berichten über Hunger und Sterben in Gaza. Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?
Wir leben derzeit in den Überresten meines Hauses in Gaza-Stadt. Es ist nur ein Zimmer übrig, wo meine ganze Familie wohnt, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern. Weil ich von der Hamas verfolgt werde, werde ich bald an einen anderen Ort ziehen. Das Elend ist gross. Die Hamas macht alles schlimmer, weil ihre Leute die meisten Hilfsgüter klauen, gemeinsam mit verbündeten Banden und Dieben. Fast alles Essen auf den Märkten ist Diebesgut aus den Lastwagen.
Wie können Sie in dieser Lage überleben?
Wir kaufen Essen auf dem Schwarzmarkt. Es ist unglaublich teuer, manchmal muss man 100 oder 150 Dollar am Tag ausgeben, nur um Grundnahrungsmittel für die Familie zu kaufen. Ich gehe selber nicht auf den Markt, weil ich von der Hamas gesucht werde. Mein Bruder macht das normalerweise, es ist eine sehr gefährliche Mission. Die Hamas-Mitglieder sind überall, auch Diebe greifen manchmal Leute an, die Essen kaufen. Und es besteht immer die Gefahr, durch israelische Bombardements zu sterben.
In Europa herrscht fast einhellig die Meinung: Schuld am Elend ist Israel. Wie sehen Sie das?
Israel und Hamas sind gleichermassen verantwortlich. Die Hamas klaut den Einwohnern das Essen, es ist ihre einzige Einnahmequelle. Israel ist dafür verantwortlich, dass es in Gaza keine humanitäre Sicherheitszone gibt, wo die Leute Nahrungsmittel beziehen oder sich medizinisch behandeln lassen können. Dieses Gebiet müsste von einer dritten Partei überwacht werden, weder von der Hamas noch von Israel. Das wäre der Schlüssel, um die Leute in Gaza zu retten. Wenn die Israeli sich von Anfang an darum gekümmert hätten, würden viele Leute noch leben. Sie wussten ja, dass die Hamas Menschen als Schutzschilde missbraucht, dass sie Frauen und Kinder opfert.
Auf Ihrem Twitter-Account haben Sie kürzlich ein Bild gepostet von zwei Buben, die im Abfall nach Essen suchen.
Die Hungersnot ist sehr real, und sie ist gefährlich, weil die Mehrheit der Leute kein Geld hat, um sich die teuren Lebensmittel kaufen zu können. Manche sterben vor Hunger. Einen Behälter Milch oder Milchpulver für Babys auf dem Schwarzmarkt auf der Strasse zu kaufen, kann dich 200 Dollar kosten. Es gibt tonnenweise Videos, die all diese Not zeigen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ein Kind sass auf dem Boden, es hielt einen Sack mit Abfall, es ass daraus mit blossen Händen, achtete nicht einmal darauf, was es ass.
Israel hat mit den USA Hilfszentren eingerichtet, die jedoch stark kritisiert werden. Der israelischen Armee wird vorgeworfen, auf die Leute zu schiessen. Waren Sie selber dort?
Die Lage dort ist offenbar äusserst chaotisch, die Leute stossen sich herum, es gibt Gewalt von Dieben, und die Hamas ist überall, deshalb wage ich es nicht, selber hinzugehen. Die Hilfszentren haben die Versorgung vielleicht ein bisschen besser gemacht, aber dies hilft nur wenigen Leuten. Es brauchte mindestens 400 Lastwagenladungen Mehl pro Tag. Und man müsste lokale Koordinatoren vor Ort einsetzen, die die Essensverteilung überwachen.
Wenn man Ihnen zuhört, hat man nicht das Gefühl, dass die Hamas besiegt ist. Wie stark ist die Bewegung noch?
Sie hat wahrscheinlich über 60 Prozent ihres Militärpersonals verloren, aber sie sind immer noch fähig, loyale Banden anzuführen. Sie rächen sich an Dissidenten und Leuten, die sie kritisieren. Sie brechen ihnen die Beine, manche töten sie oder verschleppen sie in abgelegene Gebiete der Stadt.
Kann man auf der Strasse Hamas-Leute und Zivilisten überhaupt unterscheiden?
Nein. Deshalb ist wie gesagt die einzige Lösung die Einrichtung einer Sicherheitszone, wo jeder kontrolliert wird, der reinwill.
Sie haben 2019 die Bewegung «Wir wollen leben» mitbegründet, die gegen die Herrschaft der Hamas kämpft und auch Demonstrationen organisiert hat. Was hat Sie politisiert?
Nach meinem Jurastudium war es unmöglich, eine Stelle zu bekommen, ohne ein Empfehlungsschreiben der Hamas vorweisen zu können. Weder ich noch meine Familie waren jemals Anhänger der Hamas. Die Bewegung «Wir wollen leben» war ein Appell an die Hamas, lieber die hohen Steuern zu reduzieren und der Jugend berufliche Möglichkeiten zu eröffnen, als den Kampf und den Todeskult zu zelebrieren. Statt mit uns zu reden, haben sie Gewehre und Gewalt eingesetzt. Ich wurde ins Gefängnis geworfen, verhört und gefoltert. Das hat mir gezeigt, dass mit der Hamas keine Reformen möglich sind.
Diesen Frühling haben Sie im Gazastreifen mit Gleichgesinnten erneut gegen die Hamas protestiert. Wie gross ist die Gefahr, bei solchen Kundgebungen getötet zu werden?
Es ist sehr gefährlich, die Hamas ist eine radikale totalitäre Organisation, sie schlägt die Demonstrationen mit Gewalt und Verhaftungen nieder. Aber dieses Risiko müssen wir eingehen, wir müssen unsere Stimme erheben für alle in der Welt, um ihnen zu sagen: Gaza ist nicht die Hamas. Und Hamas ist nicht Gaza.
Von aussen erscheinen Sie als kleine Minderheit. Oder täuscht das?
Ich glaube, mittlerweile ist eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die Hamas. Man will sie loswerden. Die Leute sehen, was ihnen die Hamas mit dem 7. Oktober eingebrockt hat. Das Leiden ist unvorstellbar. Ich kann mich nicht auf Umfragen stützen, aber gemäss meinen Beobachtungen gibt es nur noch etwa 20 Prozent Kämpfer und Unterstützer der Hamas. Selbst Leute, die vor dem 7. Oktober für sie waren, rufen sie dazu auf, endlich aufzugeben. Sie wollen ins normale Leben zurückkehren.
Vor einigen Tagen haben europäische und arabische Länder dazu aufgerufen, die Hamas zu entwaffnen. Sogar Katar verlangt das – der Staat, der die Hamas aufgerüstet und finanziert hat.
Ich hoffe, dass das die tatsächliche Haltung von Katar ist. Vielleicht sind das auch nur Beteuerungen für die Medien und das westliche Publikum. Denn wer bewirtet die Hamas, wer beherbergt ihre Firmen, wer unterstützt sie medial, auf al-Jazeera? Katar! Wenn die Katarer es ernst meinen, sollten sie die Führer der Hamas verhaften und ihre Besitztümer beschlagnahmen. Das Geld sollen sie der leidenden Bevölkerung geben.
Leute wie Sie, die die Hamas kritisieren, werden im Westen eher selten gehört. Sie stehen oft im Verdacht, die Palästinenser zu verraten. Wie erklären Sie sich das?
Die Hamas hat sich in den Medien einen starken Einfluss verschafft. Sie wird unterstützt vom internationalen Sender al-Jazeera, der von Katar kontrolliert wird und vor allem hamasfreundliche Stimmen zitiert. Wer in Gaza anders denkt, hat Angst. Leute wie ich haben selten eine Plattform. Deshalb rufen wir die Medien dazu auf, sich zu öffnen – und nicht Medien wie al-Jazeera zu vertrauen.
In Europa erfahren die Palästinenser grosse Solidarität. In vielen Städten gibt es «Free Palestine»-Demonstrationen. Israel wird überall verurteilt. Was denken Sie darüber?
All diese Demonstrationen nützen der Bevölkerung in Gaza nichts. Persönlich sehe ich das so: Diese Demonstranten helfen der Hamas, nicht der Bevölkerung in Gaza. Ich habe auf Bildern Demonstranten gesehen, die kleiden sich wie Abu Obeida (ein Sprecher der Hamas, Red.). Aber ich habe nie Protestierende gesehen, die unsere Forderung nach einer humanitären Sicherheitszone aufgenommen haben.
Wird es eines Tages möglich sein, dass Palästinenser Seite an Seite mit Israel leben, nach allem, was passiert ist?
Davon bin ich überzeugt. Viele Leute haben das schon vor dem 7. Oktober geglaubt. Jetzt haben die meisten die Schnauze voll von dem Leid, dem Töten und dem Hass. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder die Hamas kapituliert, sonst müssen dringend entmilitarisierte Sicherheitszonen eingerichtet werden, die nicht den israelischen Bombardements ausgesetzt sind.
Wann endet dieser Krieg endlich?
Wenn die Hamas nicht kapituliert und es keine echten Sicherheitszonen gibt, wird es Jahrzehnte des Tötens geben. Deshalb ist es so wichtig, sich auf die Idee einer humanitären Stadt zu konzentrieren. In der Schule wurde uns beigebracht, dass man in den Himmel kommt, wenn man einen Juden tötet. Man sagte uns, die Juden seien die Feinde der Menschheit, die Feinde Gottes. Als ich älter wurde, realisierte ich, dass das falsch ist – und wir in Frieden leben können. Schulbücher kann man ändern, und ich glaube, dass viele Lehrer und Intellektuelle in Gaza ähnlich denken wie ich.
Mitarbeit: Kacem El Ghazzali.
nzz.ch