Frankfurter Buchmesse: Das sind unsere 19 Leseempfehlungen für den Herbst

Oft hat T.C. Boyle seine Gabe, verschachtelte Handlungen in launigem Ton auszubreiten, eingesetzt, um gesellschaftliche Entwicklungen und Missstände widerzuspiegeln – mal in Andeutungen, mal plakativ, meist aus der inneren Sicht Einzelner, in die er hinein- oder auch hinabsteigt. Dieses Mal nicht. Rufen die Zeiten nach Eskapismus? Sicher, auch in „No Way Home“ nutzt Boyle meisterhaft die Methode des Perspektivwechsels – aber ohne eine größere Geschichte zu transportieren als die erzählte: Zwei Männer kämpfen um eine Frau, deren Bann sie sich nicht entziehen können, aber besser sollten.

Früh spürt man, dass der Sog der Erzählweise gegen die Wand führen wird. Schnell werden die Figuren plastisch, wenn auch nicht sympathisch. Allerdings stellen sich viele Nebencharaktere nur als falsche Fährte heraus. Oder nicht? Sind es Statisten, die die verkorkste US-Gesellschaft illustrieren? Liegt darin die Meta-Ebene dieses Romans – und eben nicht im toxischen Verhalten der streitenden Männer? Zuzutrauen wäre es Boyle.
T. C. Boyle: „ No Way Home”. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser. 384 Seiten. 28 Euro.
Zehn Jahre ist es her, dass Giulia Enders mit „Darm mit Charme“ zu ihrer eigenen Überraschung ein kolossaler Bestseller gelang. 23 Jahre alt war sie damals, und die Formel „Charmante Jungautorin + feinster Humor + ein degoutantes Körperthema = Welterfolg“ ging auf: Mehr als 8 Millionen Mal verkaufte sich das Buch. Für ihr zweites Werk hat sich Enders, inzwischen Ärztin, zehn Jahre Zeit gelassen. In „Organisch“ verfolgt sie eine originelle, aber auch steile These: Wenn es uns gelingen soll, den Zustand von Körper, Geist und Seele endlich ganzheitlich – eben „organisch“ – zu verstehen, wie die Natur es vorsieht, dann könnten wir damit beginnen, unsere Organe als eine Art „Persönlichkeit“ zu verstehen.

Enders erinnern Leber, Herz oder Lunge gar an Familienmitglieder und Freunde. Das Ergebnis ist kein esoterisches Experiment, sondern ein lesenswerter und erkenntnisreicher Appell für ein umfassenderes Verständnis unserer selbst. „Organisch“ ist humorvoll, warmherzig und bestens informiert. Enders ist großartig darin, auch uns Körperkläusen komplexe Vorgänge klar und vergnüglich verständlich zu machen. Für den nächsten Lesegenuss möge sie sich nicht wieder zehn Jahre Zeit nehmen.
Giulia Enders: „Organisch“. Ullstein. 336 Seiten, 24,99 Euro.
Eine Adelsfamilie, die im Ungarn des beginnenden 20. Jahrhunderts zwischen die Mahlsteine der Geschichte gerät – der Roman „Lázár“ des Schweizer Autors Nelio Biedermann nimmt Leserinnen und Leser mit in seine eigene Familiengeschichte. Der gerade mal 22-jährige Autor stammt selbst aus einem ungarischen Adelsgeschlecht, das in den Wirren des untergehenden Habsburger Reiches, des Zweiten Weltkriegs und der sowjetischen Herrschaft über Ungarn alles verlor. Die Machtlosigkeit, mit der die Protagonisten in den Sog der Geschichte geraten, ist atemberaubend. Der Versuch, die Augen vor dem aufziehenden Sturm und dem Unrecht zu verschließen, ist verständlich – und doch zum Scheitern verurteilt.

All das wird in „Lázár“ spürbar. Vor allem aber ist der Roman eine Familiengeschichte, mit liebevoll gezeichneten Charakteren und einer mal wuchtigen, mal federleichten, immer brillanten Sprache. Und ein Buch, das zeigt, dass – bei allen äußeren Schicksalsschlägen – das Unglück vor allem diejenigen heimsucht, die sich selbst verleugnen.
Nelio Biedermann: „Lázár“. Rowohlt Berlin, 336 Seiten, 24 Euro.
Sie sagen ihm gern, dass er „ein Glückspilz“ sei. Und tatsächlich, wenn der Ich-Erzähler sein Leben mal aufdröselt, dann scheint ihm die Diagnose genau richtig. Die Karriere steil, die Ehe entspannt, die Kinder wohlgeraten. Nur schwingt darunter ein seltsam sirrendes Unbehagen, die Ahnung, dass es einen Haken gebe in dem perfekten Leben mit dem rätselhaft allgegenwärtigen Schwiegervater, der stets im richtigen Moment die Fäden zieht. Es sind die Momente, in denen das Leben kippt, von denen Milena Michiko Flasar in ihrem Erzählungsband „Der Hase im Mond“ so leise und poetisch berichtet.

Da ist die sachte ins Surreale driftende Geschichte des Schriftstellers mit Schreibblockade und einer Frau, die bald von der Muse zum Gegenstand seiner Erzählung wird. Oder die Frau, die der Tsunami, der Fukushima zerstörte, als verspätetes Trauma ereilt. Mit einer Kraft, die ihr Leben aus den Angeln zu heben droht. Die österreichisch-japanische Autorin lässt die Welten ihrer Figuren brüchig werden, erzählt von Metamorphosen, die sich mal unmerklich vollziehen, mal mit Macht wie eine Naturkatastrophe.
Milena Michiko Flasar: „Der Hase im Mond“. Wagenbach. 240 Seiten, 24 Euro
„Tanzt die Orange“ lautet ein Zitat aus Rainer Maria Rilkes Sonetten. Jan Wagner und Norbert Hummelt nehmen es als Aufforderung, „die Dinge von Neuem zu animieren“. So sammeln die beiden Stars der Lyrik-Szene zum 150. Geburtstag des berühmten Dichters „100 Antworten auf Rilke“ von so namhaften Kolleginnen und Kollegen wie Marion Poschmann, Franzobel, Mirko Bonné und Kerstin Hensel. Manche Lyriker orientieren sich an der Form, so wie Thomas Böhme, der wie Rilke in „Mir zur Feier“ drei Strophen mit vier Versen und Kreuzreim dichtet.

Inhaltlich greift Böhme die von Rilke in der letzten Zeile erwähnten „sinnenden Dinge“ auf und benennt sie konkret. Rilkes „Winterliche Stanzen“ werden zu Haiku-Gedichten, Dincer Gücyeter macht aus dem sentimentalen „Der Auszug des verlorenen Sohnes“ eine schnoddrige Rap-Version. Zu Rilkes vielleicht bekanntestem Gedicht „Der Panther“ finden sich gleich vier „poetische Zündungen“, wie die Herausgeber es im Vorwort nennen. Bertram Reinecke macht den Mönch am Meer aus Caspar David Friedrichs Gemälde zum Panther. Cia Rinne wählt eine grafische Umsetzung, die einer Orange ähnelt – einer tanzenden?
Mit Jan Wagner / Norbert Hummelt (Hrsg.): „Tanzt die Orange: 100 Antworten auf Rilke“. Hanser Berlin. 240 Seiten, 28 Euro.
Wer könnte prädestinierter sein, ein Buch über Bier zu schreiben, als ein Tscheche? Jaroslav Rudiš ist nicht nur ein passionierter Bahnfahrer, sondern auch Freund des gepflegten Hopfens. Er hat, so schreibt der 53-Jährige, das Interesse für Bier wortwörtlich mit der Muttermilch aufgesogen. Gleich nach seiner Geburt nämlich, „die ziemlich lange dauerte, wurde meiner Mutter ein Glas Bier gereicht. Als Heiligtum, ja als Sakrament vom Chefarzt persönlich“. Zur Stärkung quasi, wie es die dortige Tradition will. „Ein Bier als erste medizinische Hilfe böhmischer Art, um die Milchbildung anzuregen, wie der Arzt erklärte. Ein Bier als Anerkennung, dass es meine Mutter geschafft hatte.“

Das würde man heute sicherlich nicht mehr so handhaben, aber es waren halt die Siebziger. Sicherlich nicht nur für sein Buch hat Jaroslav Rudiš dann viele Biersorten probiert, hat Altbier und Zwickel getrunken, Brauereien besucht und kann darüber hinaus sehr viel Blumiges über die Biergeschichte erzählen. Rudiš ist über sein Interesse am Gezapften hinaus ein großer Erzähler. So kann man dieses Buch getrost exen.
Jaroslav Rudiš: „Gebrauchsanweisung für Bier“. Piper. 256 Seiten, 16 Euro.
Wer ist denn nur der berühmteste der „Peanuts“? „Würde man eine Umfrage machen und die Leute auffordern, eine Figur aus den ,Peanuts’ zu nennen, fiele wohl am häufigsten der Name Snoopy“, schreibt Joachim Kalka in seinem erdnusswissenssatten Büchlein über einen der berühmtesten Comics der Welt. „Dieser berühmte Hund ist in gewisser Weise die Gegenfigur zu dem ewig leidenden Charlie Brown; ihm werden seine Träume in pittoresker Vielfalt wahr.“

Kalka, der normalerweise im Berenberg-Verlag feine Essays über Schnee, Staub und den Mond veröffentlicht, hat sich für Reclam hier tief in die Geschichte von Charlie Brown und Snoopy, Lucy und Peppermint Patty, Woodstock und Linus vertieft. Das zeigen Sätze wie jener über Religiösität bei den „Peanuts“: „Die gänzlich unorthodoxe Beliebigkeit religiösen Glaubens in diesem Strip wird wiederum des Öfteren am Beispiel des Kultus vom Großen Kürbis geschildert.“ Linus ist diesem Kult verfallen. Vom Kürbis sind wir dann gedanklich schnell beim Herbst – und eben jener ist prädestiniert, ein kluges Buch wie Kalkas zu lesen. Es muss ja nicht in einer Hundehütte sein.
Joachim Kalka: „Peanuts“. Reclam. 100 Seiten, 12 Euro.
Zu den Opfern der Ampel zählt Robin Alexander: Nachdem der „Welt“-Journalist 2017 mit „Die Getriebenen“ einen Bestseller über die Interna der Flüchtlingskrise landete und in „Machtverfall“ 2021 das Ende der Ära Merkel sezierte, nahm er sich für den Herbstwahlkampf 2025 offensichtlich vor, Bilanz und Machtverfall der Ampel aufzublättern. Überrumpelt vom Ampel-Aus mussten Verlag und Autor umplanen – und setzten nun die Bildung der Regierung Merz als Rahmenhandlung um die Ampel-Querelen. Das führt zur Produktenttäuschung, wenn man angesichts von Buchtitel und Merz, Weidel und Trump auf dem Cover ein Buch übers Ringen mit dem Populismus erwartet.

Stattdessen geht es darum, wie übel Scholz, Habeck und Lindner einander mitspielten. Doch auch das ist spannend und verdienstvoll, etwa im Fall der Rekonstruktion von Heizgesetz-, Russengas- und Atomkraft-Aufregung. Wer Journalismus als ersten Entwurf der Geschichtsschreibung sieht, findet hier einen starken Beitrag zur Ampel-Geschichte, aus der Merz & Co. viel lernen könnten.
Robin Alexander: „Letzte Chance. Der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie“. Siedler. 384 Seiten, 25 Euro.
Es gibt die einen Trainer, die sich in ihren Laptops große Taktiken zurechtlegen. Andere wiederum setzen auf Motivation, den menschlichen Faktor, die Taktiktafel in der Umkleidekabine. Welche Art sie auch wählen, wohl kaum jemand würde bestreiten, dass Trainern und Taktikfüchsen eine wichtige Rolle beim Erfolg einer Mannschaft zukommt. Was aber, wenn das alles gar nicht so wichtig ist, wie gedacht? Wenn ganz andere Faktoren einen großen Einfluss haben, die da heißen: Glück, Zufall, Pech. Christoph Biermann, einer der kreativsten Fußballautoren des Landes mit so schönen Büchern wie „Wenn Du am Spieltag beerdigt wirst, kann ich leider nicht kommen“ hat dem Thema Zufall im Fußball nun ein ganzes Buch gewidmet.

„Ich wusste natürlich, dass ein gutes Ergebnis nicht immer die Folge einer guten Leistung ist. Jeder Fußballfan weiß das und alle, die jemals Fußball gespielt haben. Ganz selbstverständlich sprechen wir von glücklichen Punktgewinnen oder unglücklichen Niederlagen. Aber letztlich nehmen wir das nicht ernst.“ Nach Biermanns Buch wird sich das – nicht ganz zufällig – ändern.
Christoph Biermann: „Die Tabelle lügt immer. Über die Macht des Zufalls im Fußball“. Kiepenheuer & Witsch. 285 Seiten, 18 Euro.
Eine junge Frau verschwindet von einem Forschungsschiff auf der Fahrt von Grönland nach Kiel. Iona war streitbare Klimaforscherin, ihr Schwerpunkt das ewige Eis. Eine, die deshalb im Netz mit Hassbotschaften zu kämpfen hatte. Und die mit ihrer Doppelrolle als Wissenschaftlerin und Mutter haderte. Außerdem ist da noch ihr Mann, der als erster Offizier auf der „Anthroposcene“ fährt. Ebenso wie ein Wissenschaftler, der sich von Ionas Erkenntnissen bedroht fühlt. Es ist ein rätselhafter Todesfall, der Liewe Cupido in Mathijs Deens viertem Krimi „Die Lotsin“ um den wortkargen Kommissar von Texel beschäftigt.

Dabei bringt der Autor Cupido erst spät ins Spiel; denn der hat genug mit den Sorgen um die kranke Mutter zu tun. So hat zunächst der junge Ermittler Xander Rimbach den großen Auftritt. Deen hat wie gewohnt breit recherchiert, taucht mit allem Detailreichtum in die brisante Geschichte. Von polizeilicher Ermittlung über den Forschungsstand bis zu den fast verzweifelten Nachrichten, die Iona einer Freundin gemailt hat, leuchtet der Niederländer die Geschichte packend zwischen Wissenschaftskrimi und persönlicher Lebenskrise der Heldin aus.
Mathijs Deen: Die Lotsin. Übersetzt von Andreas Ecke. Mare Verlag. 368 Seiten, 23 Euro
Ja, ja, die alten Römer und die noch älteren Griechen: Unsere Vorfahren, auf die wir unsere westlichen Zivilisationen gründen, haben eine beträchtliche Blutspur durch Europa gezogen. Der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer und der ehemalige Verlagslektor und heutige Krimiautor Stephan von der Lahr haben über die Gewaltgeschichte der Antike nun ein – ja wirklich – unterhaltsames Buch geschrieben. Sie wählen für das dunkle Thema eine überaus heitere Sprache.

„In Erinnerung an die wunderbare Truppe Monty Python, die unsere Kindheit und Jugend so unendlich viel lustiger gemacht hat, wollen wir also auf den folgenden Seiten eine neue Darstellung all dessen wagen, womit Generationen von Schülerinnen und Schülern an humanistischen Bildungsanstalten eingepinselt worden sind.“ Es folgt dann gleich noch die augenzwinkernde Warnung: „Dieses Buch kann Spuren von Gewalt, sexuelle Inhalte, Schimpfwörter und politische Unkorrektheiten aller Art enthalten“ und darf nicht „in die Hände von Kindern oder Besucherinnen und Besuchern humanistischer Gymnasien gelangen“. Und dann geht das Hauen und Stechen schon los, mit Alexander, Punicus, Vespasians Sohn Titus und vielen anderen. Na dann, haut rein!
Michael Sommer, Stephan von der Lahr: „Die verdammt blutige Geschichte der Antike ohne den ganzen langweiligen Kram“. C. H. Beck. 364 Seiten, 26 Euro.
Gletscher werden kleiner, sie schmelzen, manche werden nicht mehr existieren. Die „Schwarze Milz“ etwa in den Allgäuer Alpen steht kurz vor dem endgültigen Verschwinden. Der Fotograf Sebastião Salgado hat in den vergangenen Jahren Gletscher fotografiert und so einen Status Quo festgehalten. Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, der im Mai dieses Jahres im Alter von 81 Jahren gestorben ist und den Regisseur Wim Wenders in einem Dokumentarfilm würdigte, hat überwältigende Bilder in Schwarz-Weiß geschaffen.

„Schmilzt ein Gletscher zu stark, wie unter den Bedingungen der globalen Erderwärmung heute oft der Fall, fehlt ihm schließlich die kritische Masse und damit die Kraft, sich zu bewegen, talwärts zu gleiten“, schreibt Elisa Palazzi im Vorwort des Bandes „Gletscher“. „Das war zum Beispiel das Schicksal des Okjökull auf Island, dessen letzte Stunde am 18. August 2019 schlug.“ Salgado hat seine Fotos in Kanada und Chile, in Bhutan und Südgeorgien, auf Island und in der Antarktis geschossen. So ist dieser Band auch eine kleine eisige Weltreise.
Sebastião Salgado: „Gletscher“. 128 Seite, 45 Euro.
Manche Bücher kann man einmotten. Im Moment benötigt man sie nicht, vielleicht kommt aber irgendwann ihre Zeit. Dieses Buch aber sollten wir in der Gegenwart halten, es lesen und bestaunen. Es handelt, jawohl, von Motten. Warum das?
Die Autorin Cornelia Funke, bekannt und beliebt durch Buchreihen wie „Reckless“, die „Tintenwelt“ und die „Wilden Hühner“, begründet ihre ungewöhnlich Buchthemenwahl zu Beginn selbst: „Schmetterlinge nennen wir umgangssprachlich die Tagfalter, Motten die Nachtfalter.“ Letztere können zwar in den Formen Kleider- und Getreidemotten Schäden in Kleiderschränken und auf landwirtschaftlichen Feldern verursachen, aber in der weiten Natur flattern auch noch viele andere, unterschätzte, unfairerweise missgeliebte Falter durch die Nacht.

Der Oleanderschwärmer zum Beispiel, der besonders schön ist. Die Lunamotte, die „ein Augenmuster auf den limonengrünen Flügeln“ und einen weißen Körper hat. Oder das Taubenschwänzchen, das 3000 Kilometer in 14 Tagen zurücklegen kann und zudem außergewöhnlicherweise den Tag mehr liebt als die Nacht. Dieser zauberhafte Band aus der Insel-Bücherei wird noch schöner durch die wunderbaren Illustrationen von Jessica Frascht.
Cornelia Funke: „Nachtfalter“. Illustriert von Jessica Frascht. Insel. 112 Seiten, 18 Euro.
Den Preis für den besten Buchtitel des Jahres könnte man Nora Gomringer schon jetzt verleihen: „Am Meerschwein übt das Kind den Tod“ lautet das aktuelle Buch der Bachmann-Preisträgerin. Die 45-jährige Lyrikerin verarbeitet in diesem selbstreflexiven Prosatext den Tod ihrer Mutter vor einigen Jahren. Erschienen nur wenige Wochen, nachdem ihr Vater Eugen Gomringer starb, lässt er sich auch als Requiem auf den Begründer der Konkreten Poesie lesen, dessen Gedicht „Avenidas“ zum Aufreger-Poem des Jahres 2018 wurde, weil es einige für sexistisch erachteten.

Gomringer ringt um Worte für den Verlust der geliebten Mutter, die ihr schon früh aus dem „Hexenhammer“ vorlas und so ihre morbide Seite prägte. Erinnerung ist das zentrale Element des nur gut 200 Seiten fassenden Bändchens. „Erinnern ist eine Kachel bei Instagram, für die es mal mehr, mal weniger Likes gibt. Oder eben ein Gang durch ein Museum mit wechselnder Hängung“, heißt es da. Sprachgewaltig und rotzig ist der Tonfall. Gomringer trauert in schnörkellosen Sätzen wie diesem: „Sie hinterlässt drei Kinder und einen Bindestrich. Sie hinterlässt mir ihre Freundinnen, ihre Bibliothek, ihr Unbehagen.“
Nora Gomringer: „Am Meerschwein übt das Kind den Tod: Ein Nachrough“, Voland & Quist, 208 Seiten; 22 Euro.
Manchmal ist es leicht, die Guten und die Bösen im Nahost-Konflikt zu benennen, wenn man der empathischen Journalistin und kenntnisreichen deutschen Auslandskorrespondentin Natalie Amiri auf dieser Reise durch die Kriegsregion folgt: Wenn sie die Gräuel der Hamas vom 7. Oktober schildert – der Ausgangspunkt ihres neuen Buchs – und wenn Opfer, Hinterbliebene und Geiseln zu Wort kommen. Oder auch, wenn sie im besetzten Westjordanland mit jüdischen Fanatikern spricht.

Mit zunehmender Lesedauer wird es aber immer schwieriger, den „Nahost-Komplex“ nach Täter und Opfer- oder entlang von Schuldfragen aufzudröseln. Amiri hat für ihren Porträt-, Reportage-, Gesprächs- und Analyseband mehr als 40.000 Kilometer zurückgelegt und unzählige Menschen in Israel, Palästina, Syrien, Libanon, Kurdistan, Iran und Irak interviewt. Wer der Versuchung widersteht, Belege für seine ohnehin bestehenden Meinung zu suchen oder in die Schilderungen Kausalitäten hineinzudeuten, wird nach dem Lesen klüger sein – und pessimistischer.
Natalie Amiri: „Der Nahost-Komplex. Von Menschen, Träumen und Zerstörung“; Penguin, 416 Seiten, 25 Euro.
Er gehört zu den wichtigsten Gesichtern der Nachkriegsliteratur. Michael Krüger prägte über Jahrzehnte die Geschichte des Münchner Hanser-Verlags, zuletzt fast 20 Jahre als Geschäftsführer. Einen Großteil seines Lebens hat er also mit Dichterinnen und Schriftstellern verbracht, war mit ihnen auf Reisen, hat mit ihnen diskutiert, gefeiert, getrauert. Seine Erinnerungen teilt er nach seinem Band „Verabredung mit Dichtern“ nun auch in seinem neuen Buch „Unter Dichtern“ und vermischt diese mit Reden, Anekdoten, Nachrufen. Viele seiner Wegbegleiter sind bereits gestorben, Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, zuletzt Peter von Matt.

Über eine Reise mit Rühmkorf schreibt er: „Verlassen der Stadtgrenze von Hamburg, eine lebensgefährliche Unternehmung. Zigaretten, Zigaretten mit Sonderfüllung, Ernte Spezial, Papier, Lektüre, eine Kollektion von Pullovern und Schals für die zu erwartenden Unwetter, Schmerztabletten, Magentabletten, Kamm.“ Für manchen Menschen ist es eine Herausforderung, in die weite Welt (oder vielleicht auch nur von Hamburg nach München) zu fahren. Sogar für weltoffene Dichter. Es ist eine Freude, dass Michael Krüger uns an all dem teilhaben lässt.
Michael Krüger: „Unter Dichtern“. Suhrkamp. 617 Seiten.
Eine geheime Bibliothek mit einem verwilderten Garten – wenn man sich diesen Ort vorstellt, ist man augenblicklich verzaubert. Das Autorenduo Nina George und Jens J. Kramer nimmt junge Leser mit auf diese fantastische Reise. „Die magische Bibliothek der Buks“ handelt von Buchschutzgeistern – den Buks -, die in einer alten Villa leben und die Bücher bewahren wollen, die es in der realen Welt nicht mehr gibt.

Der zweite Band beginnt ein bisschen wie Kafkas berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ mit einem irritierenden Käfer. Der Menschenjunge Finn hat dann unterwegs in der Geschichtenwelt allerdings noch ganz andere abenteuerliche Begegnungen. Findet er zusammen mit den Buks ein Heilmittel gegen die fürchterliche Bleichkrankheit, die die Bücher auszulöschen droht? Eine Romanreihe für Leser von „Die unendliche Geschichte“ und „Tintenherz“. Ein dritter Band erscheint im Frühjahr 2026.
Nina George / Jens J. Kramer: „Die magische Bibliothek der Buks 2: Das verfluchte Medaillon“. Planet! (Thienemann). 384 Seiten; 17 Euro.
Das Videospiel „Mortal Kombat“, Supermodels um Kate Moss und Cindy Crawford, Bill Clinton und Monica Lewinsky, der Rapper Tupac Shakur. Mit solchen Themen und Fotos beginnt der erinnerungssatte Bildband „1990er“. Für manche sind sie die „gute, alte Zeit“, in der sich die Weltgeschichte noch Richtung Fortschritt und eine bessere Zukunft neigte.

Aber im Vorwort des Autors Henry Carroll heißt es zurecht: „Jede Epoche hat kollektive Ängste“. Carroll erklärt dann auch gleich noch den Aufbau seines Buchs: „Im Mix-and-Match-Stil habe ich deshalb Bilder gepaart, gruppiert und aneinandergereiht, um faszinierende visuelle und thematische Verbindungen zwischen Kunst, Popkultur, Design, Architektur, Mode, Film und Fotografie der 1990er-Jahre aufzuzeigen. Wir sehen, wie Politik, Technologie, plötzliche globale Ereignisse und ein spürbarer Wunsch nach Veränderung beeinflussten, was wie schufen und wie es aussah.“ Und so finden wie in diesem fulminanten Bildband Klonschaf Dolly mit seinem Schöpfer Ian Wilmut genauso wie Frank Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao, das iBook von 1999 und George Bush (Vater) vor US-Soldaten.
Henry Carroll: „1990er. Bilder einer Dekade“. Prestel. 336 Seiten, 50 Euro.
Schon wieder Goethes „Faust“? Das berühmteste Werk deutscher Sprache fasziniert auch rund 220 Jahre nach seinem Erscheinen noch immer Leser wie Schriftstellerinnen. Nun hat sich die Comic-Autorin Nele Heaslip der großen Tragödie angenommen. In düsteren Schwarz-Weiß-Zeichnungen teil sie die Handlung in drei Ebenen: Diese spielen im Mittelalter, in den 1930er Jahren und in der Gegenwart.

Heaslip bleibt dabei die gesamte Zeit größtenteils am Goethe-Originaltext. Sie sei der Meinung, schreibt sie in ihrem Vorwort, „dass wir mit Goethes ,Faust’ niemals fertig sind. Ich denke, dass der ,Faust’ sich jeder neuen Zeit, jeder neuen Gesellschaft auf neue Weise offenbart. Oder eben auf alte Weise – denn auch das Altbewährte kann so innovativ über die Gegenwart hereinbrechen wie das nie Dagewesene.“ Oder wie es bei Goethe heißt: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; weh dir, daß du ein Enkel bist.“ Zwei Bände sollen nach diesem ersten Teil im kommenden Jahr erscheinen. „O schöner Brunnen, der uns fließt.“
Nele Heaslip: „Faust I – Band 1“. Text von Johann Wolfgang von Goethe, Jaja Verlag. 284 Seiten, 32 Euro.
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