Es ist nicht einfach, im Fernsehen ohne selbstgefällige Attitüde über Bücher zu reden: Helene Hegemann gelingt es mit «Longreads»

Die Schriftstellerin unterhält sich in ihrer Literatursendung an einem ausgewählten Ort mit einem prominenten Gast. Die Linken-Chefin Heidi Reichinnek war schon da. So begeistert man fürs Lesen.
Paul Jandl

Die Linken-Chefin Heidi Reichinnek redet sehr schnell. Es klingt, als würde ein Tonband in dreifacher Geschwindigkeit abgespielt. Und dann hört man die sanfte Stimme der Schriftstellerin Helene Hegemann: «Heute sprechen wir nicht über Politik. Wir sprechen über Bücher.»
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In der ARD-Literatursendung «Longreads» geht es schliesslich doch auch ein bisschen um Politik. Reichinnek sagt, dass sie sich im Gebäude des Deutschen Bundestages eine Dönerbude wünschen würde und dass sie Robert Habeck darum beneide, ein Kinderbuch geschrieben zu haben. Sie hat sogar ähnliche Kindheitserinnerungen wie Christian Lindner, der kürzlich in einem Interview bekannt hat, dass das Elternhaus für ihn immer ein Ort der Geborgenheit gewesen sei.
So ist das in «Longreads». Es menschelt, aber auf die kluge Art. Helene Hegemann, die zuletzt den Roman «Striker» geschrieben hat, trifft sich mit ihren Gästen an passenden Orten. Bei Heidi Reichinnek ist es die Kantine der Berliner Volksbühne. Praktischerweise liegt das Theater gleich gegenüber von der Linken-Zentrale, und das Berufsethos von Reichinnek gebietet, in der Volksbühne ein bisschen über das elitäre Verständnis von Kunst herzuziehen: «Kultur geht immer ein bisschen über die Köpfe der Leute hinweg. Kultur hat den Auftrag, von allen verstanden zu werden.»
Dauergequatsche im ÖRRDie Sendung «Longreads», die vom SWR produziert wird und von der jetzt die zweite Staffel mit vier Folgen in der ARD-Mediathek zu sehen ist, ist leicht verständlich. Sie versucht das fast Unmögliche: im Fernsehen über Bücher zu reden, ohne in eitle Intellektualität zu verfallen.
Vom «Literarischen Quartett» bis zum gnadenlos gescheiterten «Studio Orange» mit Sophie Passmann scheinen sich die öffentlichrechtlichen Anstalten in einer selbstgefälligen Attitüde eingerichtet zu haben: Literatur ist, was wir dauerquatschend daraus machen.
Bei «Longreads» ist das anders. Die Gastgeberin Helene Hegemann hört zu und horcht gemeinsam mit der eingeladenen Prominenz in die Bücher hinein. Man wolle in der Sendung eine Verbindung zwischen Texten, Themen und Orten herstellen, sagt Hegemann einmal aus dem Off, und dieses ergebnisoffene Experiment gelingt ausserordentlich gut.
Reichinnek lässt ihre tätowierten Arme fliegenIn diesem Lesekreis zu zweit bringen Hegemann und ihr Gast jeweils ein Buch mit. Heidi Reichinnek hat sich für das 1970 erschienene «84, Charing Cross Road» von Helene Hanff entschieden. Ein Briefwechsel zwischen der amerikanischen Autorin und einem Londoner Antiquar. Da ist einiger Herzschmerz dabei. Sie lese immer gegen ihre aktuellen Emotionen an, sagt Heidi Reichinnek. Wenn sie spricht, fliegen ihre tätowierten Arme wild durch die Luft. Hegemann wieder aus dem Off: «Ich glaube, sie trägt eine revolutionäre Nofretete auf dem Unterarm, aber ich bin mir nicht ganz sicher.»
Die Orte sind wichtig bei «Longreads». In der zweiten Folge der neuen Staffel trifft sich die Gastgeberin mit der «Fack ju Göhte»-Schauspielerin Lena Klenke im ehemaligen Kulturpalast von Bitterfeld, wo 1959 der «Bitterfelder Weg», das sozialistische Kulturprogramm der DDR, diskutiert wurde. Ein wunderbarer Bruch: Klenke hat sich gewünscht, über Miranda Julys Perimenopausen-Roman «Auf allen vieren» zu reden. Hegemann hat Helga Schuberts «Die Welt da drinnen» mitgebracht, in dem es um die NS-Euthanasie in der Nervenklinik Schwerin geht.
Man unterhält sich, lacht und lernt«Longreads» hat für jede Folge nur dreissig Minuten, aber weil während dieser kurzen Zeit in Gesprächen und kurzen Einspielfilmen so viel geschieht, stellt sich eine Art Schwebezustand ein. Die Berliner Performancekünstlerin River Roux hat in der ehemaligen Chemiefabrik Wolfen viel Kluges über Vladimir Nabokovs «Lolita» zu sagen. In einem kurzen alten Film sieht man den Autor, wie er sich über das türkische Cover seines Romans lustig macht.
Vollends wunderbar wird «Longreads» in der vierten Folge, wenn der deutsche Rapper Kelvyn Colt in der Berliner Gentrifizierungsikone «Tacheles» über sein Lebensbuch redet. Über «Propaganda» von Edward Bernays, erschienen 1928. Bernays war der Neffe Sigmund Freuds und gilt als Gründervater modernen Marketings. Er habe wissen wollen, wie er sich im Pop-Business weiterbringen könne, sagt der heute höchst erfolgreiche Rapper Colt.
Im Business der Literatursendungen können sich die Öffentlichrechtlichen weiterbringen, indem sie so etwas wie «Longreads» machen und das dann auch etwas besser in die Auslage stellen als bisher. Es schadet nicht, das Buch von Edward Bernays zu lesen. Im Auftrag der Fleischindustrie ist es dem guten Mann gelungen, Schweinespeck als gesund zu verkaufen. So wurde Bacon and Egg zum amerikanischen Nationalgericht. Über diese Pointe müssen Hegemann und Colt ziemlich lachen.
«Longreads», Staffel 2. In der ARD-Mediathek.
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