Das Geheimnis eines Ed-Sheeran-Konzertes: Man vergisst fast, dass Ed Sheeran da ist


Es gibt Momente dieses Konzerts im Zürcher Stadion Letzigrund von Ed Sheeran, in denen das Publikum zu vergessen scheint, dass er überhaupt da ist. Die Pärchen und Freunde schauen nicht mehr auf die Bühne, sondern betrachten sich gegenseitig. Sie umarmen sich, klopfen einander auf den Rücken, brüllen zusammen mit dem 34-jährigen Briten die Zeilen: «And they say she’s in the Class A Team / She’s tuck in her daydream, been this way since 18.»
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Ed Sheeran hat am Samstagabend das Letzigrundstadion mit seinen Superfans gefüllt – am Sonntag macht er das noch einmal. Fast 50 000 Menschen singen jedes Wort mit von Hits wie «A Team» und «Shape of You». Die Menge ist weder klar männlich noch weiblich, ohne Altersgrenze und -minimum, ohne Dresscode. In dem Mann, für den hier so viele im Regen stehen, können sich alle selbst erkennen.
Tagebuch vor ZehntausendenWährend des Auftritts geht Sheeran sein Leben durch. Den Songs liegt ein Erlebnis, eine bestimmte Phase, vor allem aber ein Gefühl zugrunde, das er mit dem Publikum teilt. Es beginnt im Jahr 2008. Mit 17 zog er nach London. Sein Traum: Musik machen und feiern. Sein Problem: Er war pleite.
Heute können Pop-Stars mit ein oder zwei Videos in den sozialen Netzwerken berühmt werden. Ed Sheerans Aufstieg verlief langsamer: mit kleinen Gigs in Pubs. Damals entstand der Song «The A Team». Und seither schreibt er leicht verständliche Songs über die Höhen und Tiefen des Alltags, von der Liebe («Perfect») über Sex («Shape of You») bis hin zu Sucht («Bad Habits») und Tod («Small Bump»).
Es gibt bei Ed Sheerans Songwriting immer nur eine Richtung, hoch den Hügel, bei langsam anschwellender Dramatik und Lautstärke. Auf einen Effekt reduziert – Streicher, Klavier, Folkgitarre –, passt seine Pop-Ästhetik überallhin: zur Hochzeit, zum Klassentreffen, in den Supermarkt, ans Lagerfeuer. Selbst in ein Stadion.
Wie ein hoch engagierter Animateur müht er sich in Zürich darum, das Konzert zu einem Erlebnis zu machen, an das möglichst jeder angeschlossen ist. Praktisch jeder Song bekommt seine eigene Ansage mit einer Anekdote aus seinem Leben. Und über zwei Stunden lang rennt Sheeran Gitarre spielend und singend über die runde Bühne, die mitten im Letzigrund steht. Pyros und Farbkanonen unterstützen ihn bei der Show.
Bei den Texten schöpft der Sänger aus Bildern, die man schon allzu oft gesehen hat. Oder er zeichnet die Realität sehr direkt nach. Viel Raum für Interpretation bleibt da nicht. Doch diese Banalität ist seine grösste Stärke. Andere Pop-Stars inszenieren Grösse – Sheeran inszeniert Austauschbarkeit. Er schleift regionale und soziale Grenzen ebenso wie Genre-Unterschiede.
Neben seinem Sinn für das Alltägliche ist Ed Sheerans zweite Superkraft das sichere Gespür für poppige Hooks. Solche Melodien mit besonders fiesen Widerhaken produziert er laufend. Er erinnert sich, einmal acht Songs an einem einzigen Tag geschrieben zu haben, darunter den britischen Nummer-1-Hit «Eastside», und er glaubt, dass «alle besten Songs innerhalb von drei Stunden geschrieben werden».
Das Tempo von Ed Sheerans Karriere verlangsamte sich 2022, als er mit einer Reihe von Tragödien konfrontiert wurde. Sein bester Freund Jamal Edwards starb im Alter von 31 Jahren an einem Herzstillstand. Der Song «Eyes Closed» ist ihm gewidmet. Wenn er ihn vorträgt, steht er ruhig mit seiner Gitarre auf der Bühne. Sein lyrisches Ich tanzt allein und mit geschlossenen Augen durch die Bars und Klubs, in denen es den Geliebten sonst überall sehen würde. Akustische Instrumente – Cello, Gitarre – tragen das stakkatoartige Arrangement, der Refrain entwickelt einen kräftigen Beat. Es folgt die «eye-yi-yi-eyes»-Gesangshook. Selbst in den tiefsten, dunkelsten Momenten lädt Sheeran zum Mitsingen ein.
Auf den beiden letzten Alben gibt sich der Brite nicht mehr als die Rampensau von früher, sondern als der schicksalsgebeutelte Familienvater. Er denkt erschöpft über das Ende nach («Salt Water»), vergangene Alkohol- und Drogenprobleme werden reflektiert («Borderline», «End of Youth»), und einmal sitzt er voller Angst im Wartezimmer des Arztes («Sycamore»).
Seine Frau erkrankte während ihrer zweiten Schwangerschaft an Krebs, und die Angst nach der Diagnose breitet er auf der Bühne aus. Voller eingängiger Phrasen. Die Blätter: Sie fallen. Der Schwimmer: Er sinkt. Nicht einfach so, sondern «like a stone», wie ein Stein. Die Vorhänge: Sie werden aufgezogen. Die Sonne: Sie kommt herein. Das Leben: Es geht weiter.
Das Ende des MasterplansEd Sheeran hat den Finger am Puls der Leute. So wie Bruce Springsteen in New Jersey, Charli XCX im Internet oder Taylor Swift in der ganzen Welt. Solange er davon nicht ablässt und es noch Gefühlsregungen in ihm gibt, die sich besingen lassen, wird es wohl weitergehen mit der Erfolgsgeschichte von Ed Sheeran.
Der Songwriter hat während des vergangenen Jahrzehnts einen Masterplan verfolgt. Mit seinen Platten hat er eine fünfteilige Reihe von Werken mit arithmetischen Symbolen vervollständigt, wobei «–» zuletzt auf «+» (2011), danach «×» (2014), «÷» (2017) und «=» (2021) folgten. Die jetzige Tour ist nun ein Abschluss der Gleichung und bietet gleichzeitig einen Ausblick auf eine neue Ära.
Er möchte ein weiteres Kapitel aufschlagen, einen zweiten Zyklus von fünf Alben. Das erste soll im September erscheinen. Es wird wieder energiegeladener, wie der erstmals in Zürich präsentierte Song «A Little More» zeigt. Bei den neueren Songs lässt er sich von einer Band begleiten während seiner Tour.
Sonst baut Ed Sheeran seine Lieder immer so auf, dass sie sich live allein mit einem sogenannten Looper aufführen lassen – einem Effektpedal, mit dem man die Instrumente und Stimmen in Echtzeit aufnehmen und in Endlosschleife abspielen und in simplen Arrangements übereinanderschichten kann. Grösstenteils hat er also die Bühne für sich alleine.
Und so steht der hart arbeitende Alleinunterhalter schweissgebadet an diesem Augustabend in Zürich und singt sein letztes Lied. Der Normalste unter Normalen, winzig klein und darin dann irgendwie ein Gigant. Am Ende, da umarmt Sheeran uns alle noch einmal. «My bad habits lead to you.»
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