D’Angelo war einer der bedeutendsten US-Musiker seiner Generation – er verdankte seine Ekstase dem Teufel

Er hat den Neo Soul geprägt, einen Musikstil, in dem er die Tradition mit neuen Formen und Klängen auffrischte. Am Dienstag ist D’Angelo 51-jährig gestorben. Ein Nachruf
Paul Bergen / Redferns / Getty
Der liebe Gott hat es gut gemeint mit ihm. Als Michael Eugene Archer am 11. Februar 1974 in Richmond, Virginia, zur Welt kam, legte er dem Neugeborenen Gesundheit, Kraft und Schönheit in die Wiege. Vor allem aber segnete er ihn mit grenzenloser Musikalität. Doch neben der Wiege sass wohl auch irgendein Teufel, bereit und entschlossen, dem musikalischen Wunderkind dereinst Steine in den Weg zu legen.
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Zunächst schien sich das Talent zu entfalten wie ein sicheres Schicksal. Die Vita des späteren Stars führt frühe Erfolge auf: Im Alter von drei Jahren soll das Kind eines Pfingstgemeinde-Priesters, das später unter dem Künstlernamen D’Angelo weltberühmt wurde, bereits auf einem Klavier herumgespielt haben. Bald lernte es auch, Gitarre und Saxofon, Bass und Schlagzeug zu spielen.
In der Adoleszenz profilierte sich D’Angelo als Sänger der Soulband Precise, die dreimal hintereinander den legendären Amateur-Wettbewerb im Apollo Theater in Harlem gewann. Durch solche Erfolge beflügelt, verabschiedete er sich vom College, um sich fortan ganz der Musik zu widmen. 1994 leitete D’Angelo den Männerchor Black Men United und dirigierte spätere Pop-Stars wie Raphael Saadiq, Usher und R. Kelly durch seine Gospel-Nummer «U Will Know».
Kein Gemisch, ein eigener Stil1995 erschien das Debütalbum «Brown Sugar». Es war ein Wurf; der erste von dreien. D’Angelo brillierte als Musiker, der sich gut hörbar in verschiedenen Traditionen der Black Music auskannte. Als Pfarrerssohn hatte er in der Kirche Gospel gesungen; die Mutter wiederum hatte ihn in den Jazz von Miles Davis eingeweiht. Und als Fan von Acts wie KRS-One, Rakim oder A Tribe Called Quest war D’Angelo bestens vertraut mit Hip-Hop.
Aber «Brown Sugar» klang trotzdem nicht nach Crossover oder Fusion. D’Angelo reduzierte die Einflüsse zu einer neuen Substanz, die er mit seinem fiebrigen, rhythmisch doch pointierten Gesang durchwirkte. Diese Musik, die weniger auf runde Dramen setzte als auf eine Dynamik emotionaler Intensität, firmierte bald als Neo Soul. Sie prägte eine ganze Generation höchst ausdrucksstarker Sängerinnen und Sänger – von Lauryn Hill, Jill Scott, Erykah Badu und Angie Stone (D’Angelos langjähriger Partnerin) bis hin zu Frank Ocean oder José James.
Doch nach dem frühen Grosserfolg stockte D’Angelos Karriere ein erstes Mal. In Interviews machte er einerseits Schreibblockaden geltend. Andrerseits zeigte sich seine Abneigung der ökonomischen Seite seiner Berufung gegenüber. Musik und Musikbusiness – das sei wie Wasser und Öl. Geschäft und Marketing müsse er sich vom Leib halten können, um ganz in die Musik einzutauchen.
D’Angelo versank in einer Schaffenskrise, die fünf Jahre dauerte, ehe er sein Publikum mit einem zweiten Album begeisterte. «Voodoo» (2000) wurde gleich weitherum als Meisterwerk gefeiert, als ein Meilenstein der Black Music. Der erste Eindruck entsprach dem Titel. Die strengen, pünktlich verschleppten Beats versetzten einen in Trance; und hitzige Klänge berauschten die Sinne.
Erst allmählich erkannte man im brodelnden Sound-Kontinuum eine genialische Verschmelzung von Gospel und Soul mit der ausladenden Grosszügigkeit von Funk, Bebop, Hip-Hop. Inspiriert von Prince, seinem Vorbild, hatte D’Angelo die Produktion weitgehend selber geführt und abermals so viele Instrumentalstimmen wie möglich selber eingespielt. Gleichwohl stand ihm eine ganze Schar profilierter Virtuosen mit klingenden Namen zur Verfügung – unter ihnen der Bassist Pino Palladino, der Drummer Ahmir «Questlove» Thompson, der Trompeter Roy Hargrove, der Gitarrist Charlie Hunter.
Glühendes UnderstatementUnd doch ist «Voodoo» in erster Linie ein vokales Ereignis. Denn in und über und hinter den brodelnden Klängen züngelt und flammt stets das süsse Hosianna einer überschwänglichen Männerstimme. D’Angelo setzte sich bald solistisch in Szene, bald schichtete er das eigene Singen in mehreren Tracks übereinander, bis ein D’Angelo-Gospelchor ertönte.
Der vokale Range des Neo-Soul-Erfinders reichte an sich vom Bass bis hinauf in sein fiebriges Falsetts. Statt aber Virtuosität und Stimmkraft zu zelebrieren, beschränkte sich D’Angelo meist auf ein glühendes Understatement, das einerseits sein makelloses Timing, seine sichere Phrasierung zur Geltung brachte und andrerseits emotionale Höhepunkte umso leichter zuliess. Der Sänger hat einzelne Silben herausgehoben, dann wieder ganze Sätze – oft blieben sie unverständlich wie ein gelallter Orakelspruch.
Um die emotionale Tragweite seines Singens zu erfahren, musste man D’Angelo allerdings live erleben. Gerade deshalb gilt die Welttournee von 2000 (die auch ans Jazzfestival Montreux führte) als legendäres Ereignis. Der launige Athlet mit ebenso viel Charisma wie Sex-Appeal konnte sich auf der Bühne vom charmierenden Liebhaber in einen wütenden Teufel verwandeln. Fluchend, leidend, tobend wanderte er durchs Publikum – und gleichwohl ging die rhythmische Verve seiner Stimme nie verloren. Noch in der Ekstase setzte er seine Gesänge passgenau zwischen die Laid-back-Beats und die mächtigen Bläserarrangements seiner Band.
Nach dem «Voodoo»-Zauber fiel der Neo-Soul-Star wieder ins Tal des Kummers. Zum Verhängnis wurde ihm ausgerechnet sein grösster Hit, «Untitled (How Does It Feel)» – genauer: das Video dazu. Es zeigt nichts anderes als den nackten, durchtrainierten Sänger, vom Kopf bis zur Hüfte. So wirkt sein Singen wie die zärtliche Einladung zum Sex.
In der afroamerikanischen Musikgeschichte wähnte sich fast jeder Pop-Star, der das Singen in der Kirche gelernt hatte, irgendwann als ein Sünder, der den Gospel an weltliche Vergnügen verriet. Durch die körperliche Entblössung, die seine Bekanntheit tatsächlich gefördert hatte, fühlte sich D’Angelo jetzt aber erst recht schuldig. Der sportliche Schönling, der sich mit Goldkette und Kreuz schmückte und oft etwas unsicher aus seinen bübischen Augen blickte, wollte nun nicht länger Sexsymbol sein, er wollte einzig als Künstler bewundert werden.
Ewigkeit statt ZukunftUnd wie sollte es weitergehen nach «Brown Sugar» und «Voodoo»? Der Neo Soul erwies sich, wenn nicht als Sackgasse, dann doch als seltsame historische Schlaufe. D’Angelo hatte es geschafft, afroamerikanischen Traditionalismus mit innovativen Verfahren und Ausdrucksmitteln zu beleben. Aber er verfolgte konservative Ziele. Er peilte mit seiner Musik nicht die Zukunft an, sondern die Ewigkeit.
Man kann D’Angelos Neo Soul als letzte humanistische Station in der Entwicklung der Pop-Musik sehen. Noch einmal und geradezu verzweifelt brachten Sängerinnen und Sänger alles auf, um das menschliche Potenzial auszuschöpfen – analoge Klangkultur, stilistische Flexibilität, improvisatorische Spontaneität, Virtuosität, Expressivität. Auf diese Weise sorgten sie für künstlerische Höhenflüge. Tatsächlich aber entwickelte sich Pop in Richtung Robotik. Unterstützt durch synthetische Beats und Effekte wie Autotune liessen die zeitgeistigen Pop-Stars und Rapper Musiker wie D’Angelo bald alt aussehen.
Vierzehn Jahre dauerte es nach «Voodoo», bis sich D’Angelo nochmals aufbäumte. In dieser düsteren Zeit erlebte er den Suizid eines engen Freundes, er wurde zum Alkoholiker, er wurde wegen Drogendelikten verurteilt, Beziehungen gingen auseinander, er litt unter Depressionen. Seine Fans verständigten sich auf den Social Media weltweit über seinen Zustand. Man gab die Hoffnung auf ein neues Album zwar nie auf. Und war dann doch erstaunt, als 2014 «Black Messiah» erschien – abermals ein souliger Wurf, nun oft auch mit kämpferischen rockigen Anklängen. Tatsächlich soll D’Angelo von der Black-Lives-Matter-Bewegung zu seinem musikalischen Aktivismus inspiriert worden sein.
Nach einer Welttournee wurde es wieder ruhig. Da und dort konnte D’Angelo zu Kollaborationen bewegt werden. 2019 landete er nochmals einen Hit: «Unshaken» wurde berühmt durch das Game «Red Dead Redemption 2», in dessen Soundtrack der Song erschien. In den letzten Jahren machte das Gerücht die Runde, D’Angelo arbeite an einem neuen Repertoire. Aber für eine Albumproduktion hat es nicht gereicht. Der grosse, stilbildende Sänger erkrankte an Pankreaskrebs. Am Dienstag ist er der Krankheit 51-jährig erlegen.
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