Auch Peter Fischli ist nur ein Tourist, der ein Künstler sein will. In Arles denkt er über den Kulturtourismus nach


Schon von weitem funkelt der stählerne Turm in der gleissenden provenzalischen Sonne. Seine kantig-facettenreiche Form erhebt sich über die Dächer von Arles und erinnert etwas an die bizarren Felsformationen der nahe gelegenen Kalksteinkette der Alpilles. Der Stararchitekt Frank Gehry versuchte mit diesem markanten Museumsbau aber nicht nur eine geografische Anlehnung an die Landschaft der Provence. Er wollte damit auch ein wenig das Glitzern von Vincent van Goghs berühmtem Gemälde «Sternennacht» einfangen, das 1889 unweit von Arles entstanden war.
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Ob ihm das gelungen ist, müssen letztlich die Kunstliebhaber entscheiden, die diesen Ort unlängst als neuen Hot Spot auf der globalen Landkarte der Gegenwartskunst entdeckt haben. Der 56 Meter hohe, zerklüftete Stahlturm ist nämlich das Herzstück eines riesigen Kunstparks, den die Schweizer Mäzenin und Miterbin des Basler Chemiekonzerns Hoffmann-La Roche, Maja Hoffmann, mit ihrer Luma-Stiftung zur Förderung von Kunst-, Kultur- und Umweltprojekten geschaffen hat.
Dank ihrem kulturellen Engagement ist Arles seit wenigen Jahren zum Mekka der internationalen Kunstszene geworden. Und Gehrys architektonisches Glanzstück bildet gleichsam das postmoderne Wahrzeichen der antiken Stadt mit ihrem römischen Amphitheater. Vor allem aber gibt der markante Turm für Kulturtouristen auch eine Kulisse ab, die ausgesprochen «instagrammable» ist – wie man heute Schauplätze nennt, die genug attraktiv sind, um sie kombiniert mit dem eigenen Selfie in den sozialen Netzwerken wie etwa Instagram zu teilen.
Jedenfalls erscheint dieser kühne Wurf des für seine dekonstruktivistischen Bauten berühmten kanadisch-amerikanischen Architekten mindestens so surreal wie sein Guggenheim-Museum in Bilbao oder das verschachtelte Gebäude des Vitra-Design-Museums in Weil am Rhein. Ein Grund mehr, um sich des wie eine Fata Morgana am knallblauen Himmel erscheinenden Gebildes mit der Kamerafunktion des eigenen Smartphones zu vergewissern.


Gemäss dem Schweizer Künstler Peter Fischli ist Wirklichkeit nämlich längst nur noch, was den Test bestanden hat, fotografiert und in den digitalen Orbit geschickt zu werden. Dort jedenfalls vervielfältigt sich gerade die Realität ins Unendliche, dass man bald nicht mehr sicher ist, was denn real ist und was nicht. Darüber sinniert Peter Fischli jetzt in seiner Ausstellung in Arles. Es ist eine von insgesamt nicht weniger als sieben soeben eröffneten Kunstausstellungen auf dem Luma-Campus.
In Fischlis Ausstellung steht man auf einem Boden, der mit lauter Fotos gepflastert ist. Es sind banale Ansichten von allem Möglichen, was man halt so fotografiert mit dem permanent zur Verfügung stehenden Smartphone: touristische Attraktionen, Sonnenuntergänge, Freunde, das Abendessen im Restaurant, den eigenen Hund. Wobei Fischli vor allem interessant findet, dass im Prinzip alle dieselben Bilder machen.
© Victor&Simon - Grégoire d’Ablon
© Victor&Simon - Grégoire d’Ablon
Und so hat eben auch Peter Fischli selber Fotos gemacht «wie ein Tourist, der ein Künstler sein will», erklärt er im Gespräch. «Oder auch wie ein Künstler, der sich wie ein Tourist aufführt.» Dass er diese Fotos überhaupt ausgedruckt hat, findet er eigentlich schon fast aussergewöhnlich. Denn in ihrer Banalität seien sie es kaum wert, näher betrachtet zu werden. Im Grund seien es lediglich Files. «Wir alle arbeiten an einer riesigen Matrix, die unsere Welt sukzessive in eine einzige kolossale Bilderdatei verwandelt.»
Für Peter Fischli ist sein Boden-Werk allerdings erst vollendet, wenn die Besucher in der Ausstellung darauf stehen und neben den Fotos auch ihre Schuhe, ihre Hosenbeine oder ihre darauf abgestellten Taschen erblicken. Dann finden sie sich nämlich in einer die Wirklichkeit simulierenden Welt von Files wieder. Die Arbeit zielt darauf, den Wirklichkeitsbegriff unscharf werden zu lassen: «Wir sind uns heute längst nicht mehr sicher, was wirklich ist. Ausser noch in ganz konkreten Fällen: Wirklichkeit ist etwa, wenn mein Hund Hunger hat.»
Das ist der Lauf der Dinge des digitalen Zeitalters, könnte man in Anlehnung an eine der berühmtesten Arbeiten des Künstlerduos Peter Fischli / David Weiss sagen. Mit der gut dreissig Minuten langen Videoarbeit «Der Lauf der Dinge», in der verschiedene Gegenstände in einer an Dominosteine erinnernden Kettenreaktion umkippen oder ins Rollen geraten, hatten die beiden Schweizer Künstler 1987 ihren Durchbruch. Seit David Weiss 2012 verstorben ist, arbeitet Peter Fischli im Alleingang weiter an Werken, die einen feinsinnigen wie hintersinnigen Kommentar zum Zeitgeschehen darstellen und immer auch ein Quentchen Humor enthalten.
Ohne ein Augenzwinkern kommt denn in Arles auch seine Kritik am Tourismus als einer «Verdisneylandisierung» der Welt nicht aus. So besteht eine weitere Arbeit aus abfotografierten Wagen jener infantil-pastellfarbenen Tourismuszüge, die auf Rädern statt Schienen Touristen durch die pittoresken Kulissen europäischer Städte kutschieren. Überall, wo sie auftauchen, wird die Wirklichkeit augenblicklich in eine Staffage verwandelt. Und überall gibt es sie mittlerweile: in der Schweiz, in Rom und auch in Arles.
In den Hallen der Fondation Luma würden nicht mehr länger Eisenbahnwagen produziert, gibt Fischli mit Bezug auf den Ort zu bedenken, wo die französischen Staatsbahnen einst Werkhallen unterhielten. Nun sind hier Fischlis abfotografierte Tourismus-Eisenbahnwagen in Bonbonfarben und in Originalgrösse als Siebdrucke an den Wänden aufgereiht, wo sie lange Züge bilden. «Jetzt sind die ehemaligen Fabrikhallen Teil der Produktion einer Kulturindustrie, die selber ein wichtiger Bestandteil der touristischen Attraktion von Arles geworden ist», sagt der Künstler dazu.
Kunst und NaturDass Arles als internationale Kunstdestination vom Kulturtourismus überrannt und sich selber entfremdet werden könnte, war denn auch eine lange gehegte Befürchtung der lokalen Bevölkerung. Heute sind diese Ängste vor einer Gentrifizierung weitgehend verflogen. Maja Hoffmann will mit ihrem Ausstellungspark und seinen meist kostenlosen kulturellen Veranstaltungen ein möglichst breites und auch heimisches Publikum gewinnen.
Nicht zuletzt hat sie auf dem Luma-Campus neue Jobs geschaffen, nachdem Hunderte verlorengegangen sind, als die französischen Staatsbahnen vor Jahrzehnten ihre Werkstätten schlossen. Der Stadt mit ihren 55 000 Einwohnern hat sie ein Van-Gogh-Museum gestiftet. Und mit ihrer Fondation Luma mobilisiert sie nun zusätzliche Kunsttouristen zu all jenen, die ohnehin schon in die einstige Römerstadt mit ihrem Unesco-Welterbe kommen. Mit Kunst imaginiert Maja Hoffmann die Stadt Arles neu.
«Kunst ist ein machtvolles und unersetzliches Instrument, um die Realität neu zu sehen», sagt die Kunstmäzenin überzeugt. Sie ist in der Camargue aufgewachsen und in Arles zur Schule gegangen. Mit ihrem kulturellen Engagement will sie dem Ort ihrer Kindheit und Jugend auch etwas zurückgeben, wie sie im Gespräch sagt.
Ihr Vater, der Zoologe und WWF-Mitbegründer Luc Hoffmann, hat hier im Lauf der fünfziger Jahre ein riesiges Naturreservat eingerichtet. Dieses Engagement verfolgt Maja Hoffmann weiter. So ist in den ehemaligen Fabrikhallen nicht nur Platz für Kunst. Hier wird auch geforscht. Im Atelier Luma tüfteln Designer und Biologen an neuen Werkstoffen, die aus natürlichen Ressourcen der Umgebung stammen. Aus dem Abfall, der bei der Verarbeitung von Sonnenblumen anfällt, wird Isolationsmaterial hergestellt, während aus Algen ein Bioplastik gefertigt wird, der für Möbel Verwendung findet.
Maja Hoffmann sucht eine möglichst niederschwellige Kunstvermittlung. So ist der ganze Gehry-Turm mit seinen diversen Räumen für Ausstellungen spielerisch mit In-situ-Werken internationaler Künstler durchsetzt. Neben Gehrys Doppelhelix-Treppe gibt es eine Rutschbahn, die der deutsche Künstler Carsten Höller konzipiert hat– ein Statement für ein dynamisches Kulturverständnis. Der thailändische Food-Performance-Künstler Rirkrit Tiravanjia wiederum hat das Restaurant bis ins kleinste Detail gestaltet.
Ein riesiger, unter der Leitung von Rirkrit und in der Tradition französischer Tapisserien gefertigter Wandteppich schmückt die Stirnwand des Lokals. Er ist aus Wolle von Schafen aus der Camargue gewoben und mit natürlichen Farbstoffen gefärbt. Vor allem aber zeigt er ein riesiges Feld verwelkter Sonnenblumen. Dies natürlich in Erinnerung an Vincent van Gogh, der in Arles seine produktivste Schaffensphase hatte, von der Bevölkerung aber auch als fremder Sonderling wahrgenommen wurde.
Am unteren Rand des Teppichs steht in Französisch und Englisch «Das Glück ist nicht immer lustig». Den Satz hat der deutsche Regisseur Rainer Werner Fassbinder seinem Film «Angst essen Seele auf» vorangestellt. Der Film, der zu Fassbinders erstem Publikumserfolg wurde, gilt als eine Parabel über gesellschaftliche Vorurteile gegenüber Fremden. In Arles wird nun versucht, über hundertdreissig Jahre nach van Goghs Suizid, mittels Kunst Vorurteile abzubauen und Brücken zu schlagen zwischen den Einheimischen und den Touristen. Das ist doch etwas.
Die Fondation Luma zeigt «Peter Fischli – People, Planet, Profit» (bis 11. Januar 2026) sowie zahlreiche weitere Ausstellungen u. a. von Maria Lassnig, David Armstrong, Wael Shawky, Tony Oursler, Philippe Parreno. Die Fondation Vincent van Gogh zeigt Sigmar Polke (bis 26. Oktober). Überdies findet in den historischen Gebäuden der Stadt die grosse Fotoausstellung «Les Rencontres de la Photographie» statt (bis 5. Oktober).
nzz.ch