Anna Melikova erzählt vom russisch-ukrainischen Konflikt im Spiegel einer toxischen Liebesbeziehung


Sefa Karacan / Anadolu Agency via Getty
Eine junge Frau zieht Jahre vor dem russischen Grossangriff von der Krim nach Kiew und später nach Moskau. Mit im Schlepptau eine komplizierte Liebesbeziehung und die Frage nach der eigenen Identität.
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Man könnte dieses Buch ein grosses autofiktionales Projekt nennen. Die Autorin selbst tut es. Auf opulenten über 400 Seiten breitet Anna Melikova ihr Leben aus, einschliesslich ihres Comingouts und der obsessiven On-off-Beziehung mit einer leicht älteren Frau, die immerhin fünfzehn Jahre andauerte. Die 1984 auf der Krim geborene und heute in Berlin lebende Melikova hat mit ihrem Debütroman «Ich ertrinke in einem fliehenden See» allerdings auch eine Chronik des heraufziehenden russisch-ukrainischen Kriegs geschrieben, in dem sie selbst zwischen die Fronten gerät.
Als sie ihr Literaturstudium in Kiew aufnimmt, ohne übrigens ein Wort Ukrainisch zu sprechen, geraten bei Anna die Gewissheiten ins Wanken. Zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt sich die sexuell unerfahrene junge Frau – und zwar ausgerechnet in die kapriziöse, polyamore Dozentin Vera. Vera flutet ihre Studentin, die auf eine etwas altmodische Art für Kunst schwärmt, auch mit postmodernem Denken, mit Jacques Derrida und Judith Butler. Halt findet die in mehrerer Hinsicht verunsicherte Anna im Schreiben: «Ich verstand, dass man während des Schreibens nicht leben muss. Und das gefiel mir.»
Merkwürdige UngleichzeitigkeitAuf der Krim geboren und aufgewachsen, gehört Annas Loyalität der russischen Kultur und der russischen Sprache. Doch in Kiew beginnt sie, angeregt auch durch Vera, die antiukrainischen Stereotype, die man ihr in Elternhaus und Schule beigebracht hat, zu hinterfragen. Das Liebesverhältnis des ungleichen Paars steht dagegen unter einem unglücklichen Stern. Vor allem diskutieren die beiden Frauen wieder und wieder ihre Beziehung. Von der «widerlichen Sonate ihrer sinnlosen Herumsitzerei in diversen Cafés» ist im Roman etwas ungelenk die Rede.
Im Hintergrund der verqueren Lovestory bringt die Abkehr der Ukraine von der sowjetischen Periode eine merkwürdige Ungleichzeitigkeit hervor. Denkmäler werden abtransportiert und Plätze umbenannt, während überkommene Gedenktage wie der Tag der Kosmonauten oder der Tag des Sieges am 9. Mai weiterhin begangen werden. Später wird Vera die Heroisierung von Weltkriegsveteranen allerdings infrage stellen: «Für uns sind alle Veteranen irgendwie gleich, alles ehrenwerte Rentner, und sie alle – diejenigen, die gefoltert haben, genauso wie diejenigen, die gefoltert wurden – leben heute im selben Aufgang eines Wohnblocks.»
Um ihrer toxischen Beziehung zu entkommen, flüchtet Anna 2008, direkt nach dem russisch-georgischen Fünftagekrieg, ausgerechnet nach Moskau. Vergebens natürlich. Textnachrichten fliegen hin und her; man besucht sich gegenseitig. Währenddessen läuft die russische Propagandamaschinerie gegen die Ukraine heiss. Staatliche Medien schwadronieren von unterdrückten Russen und vom Erstarken des «rechten Sektors» in der Ukraine. Die komplizierte Fernbeziehung der beiden bekommt dadurch noch stärkere Schlagseite. Die herrische Vera ist erbost darüber, dass Anna in Russland lebt und arbeitet: «Zwischen uns herrscht nun Krieg. Zwischen dir und mir. Buchstäblich.»
Auch auf ihre prorussische Familie auf der Krim kann Anna nicht bauen. Diese vertritt die Ansicht, dass «die Ukraine und Russland für immer und ewig» zusammengehören. Schuld am Krieg sei selbstverständlich die Ukraine: «Mein Vater sagt, dass der Donbass-Krieg am 2. Juni 2014 begann, als die ukrainische Armee das Regierungsgebäude der Separatisten von Luhansk in die Luft sprengte.» Dabei ignoriert der Vater geflissentlich die Tatsache, dass bereits am 12. April 2014 ultranationalistische russische Einheiten die ukrainische Grenze überquert und Slowjansk erobert haben.
Nicht ganz geglücktAnna sieht sich überall aussen vor: «Während meines Studiums wurde ich in meinem Kiewer Freundeskreis manchmal scherzhaft als Kazapka [ein ukrainisches Schimpfwort für Russen] von der Krim bezeichnet. Wenn ich jetzt mit den Menschen in meiner Geburtsstadt redete, dann war ich für sie nur noch die Moskauer Bandera, die Freiheitskämpferin für die Ukraine.»
Im Januar 2022, kurz vor dem Grossangriff Russlands, bricht das Buch mit einer letzten Nachricht Veras ab, die ihre Ankunft in Berlin ankündigt: «Was ist, Babe? Sehen wir uns? Du vermisst mich doch, oder?» In Berlin lebt Anna Melikova mit ihrer Ehefrau, einer deutschen Regisseurin.
Melikova versucht in ihrem Roman ganz offenbar, private und politische Krise ineinander zu spiegeln, Veras übergriffiges Verhalten mit dem russischen Neoimperialismus in Verbindung zu bringen. Im Ergebnis hat sich die Autorin heute nicht nur von ihrer ehemaligen Geliebten abgewandt, sondern auch Russland und der russischen Sprache öffentlich abgeschworen.
Als autofiktionales Projekt ist dieses Buch nicht ganz geglückt. Trotz einem enormen schreiberischen Aufwand, trotz eingestreuten Tagebuchnotizen und Textnachrichten, Erzählungen und Essays entwickelt man als Leser kaum Empathie für die Figur der Autorin. Auch die anderen Protagonisten, gerade Vera, bleiben einem fern, wie hinter einer Milchglasscheibe. Interessant ist Melikovas Roman als literarische Verlustanzeige, dort, wo er Trauerarbeit leistet und eine subjektive, vielschichtige Chronik der Ereignisse liefert. Immerhin dürfte es nur wenige Völker geben, die familiär so eng miteinander verflochten sind wie Russen und Ukrainer.
Anna Melikova: Ich ertrinke in einem fliehenden See. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2025. 477 S., Fr. 38.90.
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