Als die Sarazenen brandschatzend und mordend in die Schweiz einfuhren


British Library / Hulton / Getty
Es hört sich an wie eine Horrorgeschichte aus der Feder eines rechtsextremen Autors: Muslime fallen im Alpenraum ein, besetzen Verkehrswege, verwüsten Klöster und Dörfer, nehmen sich die jungen Frauen, morden und erpressen Geld.
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Doch dieses Szenario hat sich tatsächlich schon einmal zugetragen: Im 10. Jahrhundert kamen die sogenannten Sarazenen von Südfrankreich her in das Gebiet der heutigen Schweiz und kontrollierten während mehrerer Jahrzehnte wichtige Passübergänge, ermordeten Pilger und führten brutale Raubzüge im gesamten Mittelland durch.
Die Zeit der Sarazenen ist eine wenig ausgeleuchtete Episode der Schweizer Geschichte. Es ist nicht einmal gänzlich geklärt, wer diese Fremden genau waren, die nicht nur die Schweiz, sondern auch Teile Frankreichs und Norditaliens unsicher machten. Lange ging man davon aus, dass es sich um Abgesandte des Emirs von Córdoba handelt, sie also von der mehrheitlich muslimisch besetzten Iberischen Halbinsel stammten.
Die neuere Forschung tendiert eher dazu, dass es Piraten aus Nordafrika waren, also arabischstämmige Muslime oder Berber, die über das Mittelmeer nach Frankreich gekommen waren. Sicher ist, dass sie in Fraxinetum (heute: La Garde-Freinet) in der Nähe von St. Tropez eine Festung hielten, die ihnen während achtzig Jahren als Hauptquartier diente. Der Begriff «Sarazenen» ist allerdings eine Fremdzuschreibung, so wurden damals alle Muslime genannt, manchmal auch andere Fremde.
Massaker an RompilgernUm das Jahr 920 herum stiessen die Sarazenen ins Wallis vor. Eine erste schriftliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 921. Mehrere englische Rompilger seien beim Marsch über die Pässe von Sarazenen mit Steinen erschlagen worden, heisst es in einer Chronik. Dies war erst der Anfang. Die Eindringlinge besetzten mehrere Alpenübergänge, darunter den Grossen St. Bernhard. Von ihren abgelegenen Refugien in den Bergen überfielen sie in Guerillamanier Dörfer und Städte, richteten Massaker an, plünderten Kirchen und Klöster, darunter das bekannte Kloster St-Maurice, und brannten Siedlungen nieder.
Zehn Jahre nachdem sie im Wallis eingefallen waren, tauchten die «Alpenpiraten» im churrätischen Raum auf, also im heutigen Graubünden. Der Bischof von Chur klagte im Frühjahr 940, sein Bistum sei durch «andauernde Plünderungen der Sarazenen stark verwüstet worden». Die Mönche des Klosters Disentis waren gewarnt, packten ihre wertvollen Reliquien und Handschriften, ihr Edelmetall und die liturgischen Textilien in 51 Kisten und brachten sie nach Zürich, um sie im Grossmünster in Sicherheit zu bringen. Das Kloster wurde dann tatsächlich von den Sarazenen heimgesucht und teilweise zerstört. Die muslimischen Invasoren sorgten bis ins Rheintal und St. Gallen für Angst und Schrecken und legten ganze Landstriche in Trümmer.
Der Chronist des Klosters St. Gallen, Ekkehard IV., hielt fest, dass die Sarazenen von Süden her ins klösterliche Hoheitsgebiet einmarschiert waren und «unsere Alpweiden und Berge besetzten». Gemäss seinen Schilderungen, die er allerdings erst Jahrzehnte später aufgrund von Erzählungen niederschrieb, griffen die Sarazenen bei einer Prozession Mönche mit Pfeilen an. Der St. Galler Dekan Walto lancierte einen Gegenangriff. Des Nachts überfiel er «mit den Kühneren aus dem Gesinde» die schlafenden und nackten Sarazenen, deren Versteck ihm verraten worden war. Einige der Banditen wurden mit Lanzen, Sicheln und Äxten ermordet, anderen gelang die Flucht, ein paar konnten gefangen genommen werden. Die Festgenommenen allerdings hätten das Essen und Trinken verweigert und seien gestorben – eine frühe Form des Hungerstreiks.
Sind Almagell und Allalin arabisch?Vor allem im Wallis ranken sich bis heute viele Legenden um die Sarazenen. Arabisch klingende Orts- und Bergnamen wie Almagell, Allalin oder Mischabel gingen auf die Zeit der muslimischen Invasion zurück, wird zum Teil bis heute behauptet. Auch die Schwarzhalsziegen seien als lebendes Futter einst von den Sarazenen eingeführt worden. Die Forschung hat dies alles mittlerweile widerlegt oder als wenig wahrscheinlich eingestuft. Auch die Behauptung, man sehe heute noch gewissen Leuten anhand der Physiognomie, der Haar- oder Hautfarbe die sarazenische Abstammung an, dürfte kaum haltbar sein.
Selbst beim Bündner Dorfnamen Pontresina, der aus dem spätlateinischen «Pons Sarisina» (1137) beziehungsweise «Pontzarisino» (1244, Sarazenen-Brücke) hervorgegangen ist, bleibt unsicher, ob tatsächlich Sarazenen beim Bau der Brücke beteiligt waren oder bloss Leute, die wegen ihres Aussehens als solche gehalten wurden. Dasselbe gilt für die bis heute verbreiteten Familiennamen Sarasin und Sarrazin, auch da gibt es Zweifel, dass sie direkt auf die muslimischen Invasoren zurückzuführen sind.
Für den Mittelalterexperten Hannes Steiner steht dennoch ausser Zweifel, dass sich die Alpensarazenen mit Einheimischen vermischt haben. Steiner gehört zu den wenigen Schweizer Historikern, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigt haben. «In einzelnen Quellen ist davon die Rede, dass sich die Sarazenen in den von ihnen eroberten Gebieten gewaltsam Ehefrauen aus der einheimischen Bevölkerung genommen hätten», sagt er. «Es ist daher anzunehmen, dass sie auch Nachkommen hatten.»
Pro Kloster St. Johann, Müstair
Die verbreitete Ansicht, die Sarazenen hätten sich zwischen ihren Raubzügen jeweils in ihr Hauptquartier in Fraxinetum an der Côte d’Azur zurückgezogen, hält er für unplausibel. «Die Distanzen sind zu gross. Selbst die Guerillatruppen der Neuzeit mit ihren modernen Hilfsmitteln verfügen nicht über einen Operationsradius von über 500 Kilometern.» Das bedeutet: Die Sarazenen hatten feste Stützpunkte in der Schweiz.
Eine spektakuläre Geiselnahme läutete ihr Ende einJe länger die Sarazenen im Alpenraum präsent waren, desto häufiger schlossen sie auch Abkommen mit lokalen Machthabern, die darin ein Mittel sahen, Rivalen fernzuhalten. Erwähnenswert ist vor allem der Bündnisvertrag von 942 mit dem italienischen König Hugo I., der den Sarazenen die Schweizer Alpenpässe offiziell übergab, damit sie die verfeindeten Schwaben vom Übergang nach Italien abhielten. Die Sarazenen wurden dadurch legitimiert, Zölle zu erheben und Handel zu betreiben; Meldungen über Raubzüge und Massaker gingen in der Folge merklich zurück.
972 leitete eine vielbeachtete Geiselnahme in den Walliser Alpen das Ende der Sarazenen in der Schweiz und in Europa ein. Die muslimischen Kämpfer nahmen bei Orsières am Fusse des Grossen St. Bernhard den später heiliggesprochenen Majolus gefangen, den vierten Abt von Cluny. Dieser galt nach dem Papst als die einflussreichste Person der Kirche. Die Entführung und die Lösegelderpressung warfen hohe Wellen. Für die christliche Welt war die Aktion so demütigend, dass sie von vielen Historikern als Auslöser für die kurze Zeit später erfolgte Stürmung der Festung Fraxinetum angesehen wird. Die Sarazenen wurden dabei zwangsbekehrt oder umgebracht, ihre Zeit in Europa war vorbei.
Für Hannes Steiner ist die Geiselnahme auch aus einem anderen Grund ein Meilenstein. Gemäss der Schilderung des damaligen Chronisten Radulfus Glaber sei die Entführung von Respekt und Neugier gegenüber der anderen Religion geprägt gewesen. Das hatte es vorher noch nie gegeben. Die Sarazenen raubten zwar Abt Majolus und seine Begleiter aus und verlangten zusätzlich eine Lösegeldzahlung von 1000 Pfund Silber, trotzdem wird der Umgang als sehr würdevoll beschrieben.
Als zum Beispiel ein Sarazene einmal achtlos seinen Fuss auf der Bibel des Abtes abstützte, griffen ihn die eigenen Leute an und schnitten ihm – als Strafe Gottes – den Fuss ab. Die christlichen Geiseln zeigten ihrerseits grosses Interesse an der Religion ihrer Kidnapper. «Die Sarazenen lesen die hebräischen, ja vielmehr noch die christlichen Propheten und sagen, dass alles, was die heiligen Propheten über den Herrn Christus vorausgesagt hätten, bereits in einem der ihren erfüllt sei, den sie Mohammed nennen», schreibt der Chronist Glaber.
Hannes Steiner bezeichnet diese Aufzeichnung als «die früheste nicht polemisch verzerrte Schilderung von Muslimen in der abendländischen Literatur». Zuvor sei immer nur abschätzig von «Barbaren», «Ungläubigen» oder «Horden von Ismaeliten» die Rede gewesen, wenn es um die Sarazenen gegangen sei, zum Teil seien sie auch mit anderen fremdländischen Invasoren verwechselt worden, etwa den Hunnen.
In vielen Geschichtsbüchern fehlt diese EpisodeEigentlich ist es erstaunlich, dass von dieser Episode der Schweizer Historie ausserhalb des Wallis kaum je die Rede ist. In den meisten Geschichtsbüchern kommt sie gar nicht erst vor. Laut Steiner liegt dies unter anderem an der begrenzten Quellenlage. «Es gibt zwar einige schriftliche Quellen, aber längst nicht so viele wie aus anderen Phasen des Mittelalters.» Dass die Sarazenen hier gewütet hätten, daran zweifle in der Forschung aber niemand: «Die in den Urkunden des 10. Jahrhunderts erwähnten Zerstörungen in Churrätien lassen sich mittlerweile auch archäologisch nachweisen, unter anderem jene in Disentis, Chur und Tomils.»
Womöglich hat das Desinteresse auch mit der Brisanz des Islam-Themas zu tun: Dass der erste Kontakt mit Muslimen in unseren Breitengraden von Mord, Vergewaltigung und Zerstörung geprägt war, ist nicht unbedingt etwas, was man heute in Universitäten oder an Schulen an die grosse Glocke hängt.
nzz.ch