„Seid Menschen“: Mit Margot Friedländer starb eine große Berlinerin

„Seid Menschen“, sagte Margot Friedländer noch am Mittwoch in Berlin. Am Freitag hörte das Herz der vielleicht in den vergangenen Jahren bekanntesten Holocaust-Überlebenden auf zu schlagen. Ihre letzten eineinhalb Jahrzehnte verbrachte sie wieder im von ihr so geliebten Berlin – ohne jeglichen Groll, trotz ihres erlittenen Leids unter den Nationalsozialisten.
Man kennt solche Personen: Gibt es Veranstaltungen zu einem bestimmten Thema, dann sind sie einfach immer da – denn ohne sie fehlt dort etwas. Eine dieser Personen war Margot Friedländer in Bezug auf das Holocaust-Gedenken. Vor der Pandemie war sie unermüdlich unterwegs gewesen, hatte Zeugnis abgelegt – vor allem in Berliner Schulen. „Für mich ist nichts – nicht das Bundesverdienstkreuz oder die anderen Ehrungen – wichtiger als die jungen Menschen“, sagte sie einmal.
Bis zu dreimal pro Woche war Margot Friedländer unterwegs, hat mit jungen Menschen gesprochen. Sie nannte es ihre Mission. „Ich will nicht wissen, was eure Großeltern gemacht haben“, sagt sie. „Ich bin hier, um euch zu sagen, dass ich nicht will, dass ihr je mit so etwas konfrontiert seid.“ Mit so etwas – das war die Verfolgung in der Nazizeit, der Holocaust.
1921 wurde die Jüdin als Anni Margot Bendheim in Berlin geboren. Nach der Scheidung ihrer Eltern zog sie 1937 mit ihrer Mutter und dem jüngeren Bruder zu ihren Großeltern. Sie hatte eine glückliche Kindheit und Jugend, so sagte sie es. Die Familie hat ein Sommerhaus am Scharmützelsee, Margot machte eine Ausbildung als Modezeichnerin. Kleider wollte sie entwerfen, ihre Familie besaß eine Knopffabrik, die die jüdischen Modeateliers in der Gegend um den Hausvogteiplatz in Mitte beliefert, das jüdische Textilviertel. 1943 wurden ihre Mutter und ihr jüngerer Bruder abgeholt, als sie selbst noch in der Fabrik arbeitet. Später wurden sie in Auschwitz ermordet. Der Vater – er hatte die Familie im Stich gelassen – fand schon 1942 den Tod.
Die Mutter hat ihrer Tochter eine Bernsteinkette und eine Botschaft hinterlassen: „Versuche, dein Leben zu machen.“ Im Untergrund versuchte sie sich durchzuschlagen, nicht aufzufallen, zu überleben. Hierfür ließ sie sich etwa die Haare rot färben, um möglichst „unjüdisch“ auszusehen. Schließlich entdeckte sie die Gestapo, eine Greiferin hatte sie verraten, und sie wurde nach Theresienstadt deportiert.
Mit Überlebenswillen und Glück überlebte sie, wurde 1945 befreit. Kurz nach der Befreiung heiratete sie mit Adolf Friedländer einen Mann, der ebenfalls in Theresienstadt gefangen war und den sie bereits von früher aus Berlin kannte, vom Kulturbund. Gemeinsam wanderten sie in die USA aus. Dort arbeitete sie als Schneiderin und leite später ein Reisebüro.

Als sie für einen Dokumentarfilm nach Berlin zurückkehrte, fühlte sie sich wieder zu Hause. Nicht negative Emotionen prägten sie, sondern die schönen Erinnerungen kamen hoch an diese Stadt, in der sie 1921 geboren wurde. Sie ließ ihre Wohnung in New York zurück und übersiedelte 88-jährig nach Berlin. So verbrachte sie ihren Lebensabend in „ihrem“ Berlin – in die Stadt der damaligen Täter, mit der sie sich versöhnt hat.
„Ich bin glücklich, jeden Tag, jede Stunde, dass ich zurückgekommen bin“, sagte sie einmal. „Ich hasse Deutsche nicht. Ich bin Deutsche. Ich gehöre hierher, ich habe nichts zu verzeihen.“ Sie konzentriere sich auf die Nachgeborenen. „Ich kann sie nicht beschuldigen, sie haben es ja nicht gemacht. Es ist jetzt eine andere Zeit.“
In den vergangenen Jahren war Friedländer ein Teil Berlins – ein Teil, den man vermissen wird: Nicht künstlich moralisierend, sondern aus eigener Erfahrung warnend. Modisch immer in Szene gesetzt, elegant, aber nicht offensiv. Sie formulierte ihre Worte nie als Forderung, sondern als Bitte. Die Appelle der gebürtigen Berlinerin waren ergreifend, weil sie unerwartet herzlich wirkten. Es gibt bzw. gab es sie: Die Stimmen von Holocaust-Überlebenden, die den Finger in die deutsche Wunde gelegt und angeklagt haben. So eine war Friedländer nie. Sie hatte eine besondere Ausstrahlung: Wie die liebe Großmutter, zu der man gerne kommt, um sich wohlzufühlen, und die trotzdem gebetsmühlenartig mahnt: „Das darf nicht (wieder) passieren.“

2008 veröffentlichte sie ihre Autobiografie „Versuche, dein Leben zu machen“. Der Titel geht auf den Satz zurück, den ihre Mutter hinterließ, als sie abgeholt wurde. Aus diesem Buch las sie an Schulen vor, es steht in unzähligen Bücherregalen in Berlin.
Noch am Mittwoch trat Friedländer im Festsaal des Roten Rathauses auf, beim offiziellen Gedenken der Stadt an das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung vom Nationalsozialismus: „Bitte seid Menschen“, lautete der Appell der 103-jährigen. Nicht nur Bürgermeister Kai Wegner würdigte ihre Worte und Lebensleistung, der gesamte Saal reagierte mit stehenden Ovationen.
Ein Trauer-, statt FeiertagAm heutigen Freitag hätte Friedländer um 12 Uhr eigentlich für ihre Verdienste das Großen Verdienstkreuz erhalten. Der Termin fiel kurzfristig aus, wenige Stunden später war die starke Berlinerin tot. Rechtlich gilt der Orden als verliehen – ein letztes Dankeschön der Bundesrepublik. Am Freitag ist die Berliner Ehrenbürgerin in der Charité friedlich eingeschlafen, wie die Margot Friedländer Stiftung mitteilte – einen Tag und 80 Jahre, nachdem sie aus dem KZ Theresienstadt befreit wurde. Dass jemand 103 Jahre alt wird, der so viel Leid miterleben musste, ist schon Auszeichnung allein. „Margot Friedländer hat unserem Land Versöhnung geschenkt“, erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Freitag. Als „eine der stärksten Stimmen unserer Zeit“ würdigte Bundeskanzler Friedrich Merz die Verstorbene.

Begraben werden wollte sie immer auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee, wo sie auf dem Grab ihrer Großmutter Adele zwei kleine Steine für die Mutter und den Bruder gelegt hat und wo auch ein Erinnerungsstein für ihren Mann steht, der in den USA begraben liegt.
Das „Nie wieder“, das als oft inhaltsarmer Stehsatz mittlerweile oft kaum noch Wirkung zeigt, wurde von Friedländer mit Leben gefüllt. Dafür kämpfte die Margot Friedländer zeit ihres Lebens – „ohne Hass“, wie sie immer wieder betonte. Sie war eine der wenigen Persönlichkeiten, der man es glauben konnte.
Berliner-zeitung