Kinder und Jugendliche verbergen ihre Magersucht mit kreativen Ausreden und Schlabberklamotten. Wie Angehörige die Krankheit trotzdem erkennen


Anderthalb Jahre: So lange dauert es im Durchschnitt, bis Kinder und Jugendliche mit einer Magersucht eine gezielte Behandlung erhalten. Das fanden amerikanische Wissenschafter heraus, als sie untersuchten, wie die typischen Krankheitsverläufe von Mädchen mit einer solchen Anorexie beginnen – und wie sie weiter verlaufen. Unter anderem prüften die Forscher, wie lange ihre Probandinnen hungerten, bis ihre Krankheit von einem Fachmann richtig eingestuft und therapiert wurde. Mit dem obengenannten Ergebnis.
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Dabei hätte alles schneller gehen können – wenn man nur auf die ersten Warnsymptome geachtet hätte. Fast alle Mädchen hatten irgendwann begonnen, in ihrem Essverhalten ausgesprochen wählerisch zu werden. Fast alle hatten eine Diät gemacht und stark abgenommen. Dennoch dauerte es bei ihnen vier Monate, so ein weiteres Ergebnis der Untersuchung, bis die Eltern das erste Mal misstrauisch wurden. Andere Warnzeichen wurden ebenfalls lange übersehen, bis endlich ein Arzt aufgesucht wurde.
«Die Grenzen zwischen einem besonderen Essverhalten und einer krankhaften Essstörung sind fliessend», sagt Silke Naab, die die Abteilung für Kinder und Jugendliche in der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee leitet. Auch das macht es für Eltern schwierig, den Beginn einer Magersucht beim eigenen Kind rechtzeitig zu erkennen. Wie kann man das eine von dem anderen unterscheiden? Wann sollte man sich Hilfe suchen? Und wie reagieren, wenn alles dafür spricht, dass es sich um die ersten Symptome einer Essstörung handelt?
Ein komisches Essverhalten hat jedes fünfte KindZunächst einmal: Ein komisches Essverhalten ist nicht selten. Eines von fünf Kindern durchlebt im Schnitt eine Phase, in der man es als Picky Eater bezeichnen würde. Zum Vergleich: An einer Magersucht erkrankt etwa eines von 27 Mädchen im Laufe seines Lebens und rund einer von 300 Jungen.
Das galt zumindest vor der Pandemie, inzwischen sind die Zahlen noch einmal angestiegen. Solche «wählerischen Esser», wie man den Begriff aus dem Englischen übersetzen würde, nehmen nur noch ausgewählte Speisen zu sich; der Rest schmeckt ihnen nicht. Sie haben auch nur selten Lust, am Tisch Neues auszuprobieren.
Bei den meisten Mädchen und Jungen normalisiert sich das Essverhalten im Laufe der Jahre. Bei einigen wenigen nimmt die Pingeligkeit bei der Nahrungsauswahl allerdings ein so extremes Ausmass an, dass Ärzte die Kinder als krank einstufen. «Störung mit Vermeidung und Einschränkung der Nahrungsaufnahme» oder Arfid für «avoidant-restrictive food intake disorder» lautet dann die Diagnose.
Picky Eater haben keine Angst vorm DickwerdenEine Anorexie von solch einer Arfid zu unterscheiden, bereitet manchmal selbst Ärzten Schwierigkeiten. Es gibt jedoch Verhaltensmuster, die dabei helfen können: Typisch für Magersüchtige ist zum Beispiel, dass ihre Gedanken ständig um das eigene Körpergewicht und das Aussehen kreisen. Picky Eater sind frei von solchen Sorgen. Sie haben auch anders als Anorexie-Kranke keine Angst davor, dick zu werden. Sie meiden eben nur bestimmte Speisen.
Arne Bredemeyer war elf Jahre alt, als er an einer schweren Magersucht erkrankte. «Unser Sohn war schon vorher sehr wählerisch mit dem Essen. Aber wir dachten, das wächst sich aus», berichtet sein Vater. Irgendwann begann sich Arne mehrmals am Tag zu wiegen und immer weiter abzunehmen. Aus dem komischen Essverhalten war eine Magersucht geworden.
Laut Studien gibt es immer wieder Eltern, die berichten, ihre Kinder seien vor Beginn der Anorexie Picky Eater gewesen. Ein extrem wählerisches Essverhalten kann also durchaus Vorbote einer Magersucht sein. Laut gegenwärtigem Stand des Wissens ist diese Entwicklung aber nicht zwangsläufig. Das Picky Eating muss nicht in eine Magersucht münden. Und: Viele Anorektiker haben als Kind normal und fast alles gegessen.
Warnzeichen: Das Essverhalten verändert sich plötzlichAufmerksam sollten Eltern jedoch werden, wenn ein Picky Eater sein Essverhalten immer stärker ändere, sagt Silke Naab aus Prien. Manche Anorexieverläufe sehen zum Beispiel so aus: «Erst verzichtet das Kind auf Süsses, Kuchen und fettreiche Nahrungsmittel. Dann meidet es jegliche Kohlenhydrate, und dann bleibt es den gemeinsamen Mahlzeiten fern.»
Dieses Wegbleiben wird oft mit plausibel klingenden Erklärungen entschuldigt: Man esse bei einer Freundin beispielsweise. Oder: Man habe Nachmittagsunterricht und bekomme in der Schule ein Sandwich. Eine Magersucht könne Kinder so «kreativ» werden lassen, dass es manchmal sehr schwierig sei, sie zu durchschauen, so die Kinder- und Jugendpsychiaterin.
Viele Symptome haben nichts mit dem Essen zu tunWarnzeichen können auch Symptome sein, die scheinbar gar nichts mit dem Essen zu tun haben: zum Beispiel, dass der Sohn oder die Tochter keine Lust mehr haben, sich mit Freunden zu treffen oder dass sie die bisherigen Hobbys nicht mehr geniessen können. Viele Magersüchtige versuchen ausserdem, ihren Kalorienverbrauch zu steigern. Sie fangen deshalb beispielsweise an, intensiv zu joggen oder im Fitnessstudio Sport zu treiben.
Auch Arne verbrachte jeden Tag Stunden im Fitnessstudio, heimlich, die Eltern wussten davon meist nichts. Zunächst hatte es nach mehreren Klinikaufenthalten so ausgesehen, als habe er die Magersucht in den Griff bekommen. Im Teenageralter brach die Krankheit dann erneut und noch heftiger aus. «Damals habe ich mir nachts einen Wecker gestellt, um Sit-ups und Liegestütze zu machen», erzählt er.
Freunde traf er kaum noch, mit den Eltern stritt er, weil er wegen des Trainings keine Zeit mehr für die Familie hatte. Diesen war die Anorexie auch diesmal erst spät aufgefallen. Der Sohn hatte seinen abgemagerten Körper erfolgreich unter lockerer Kleidung verbergen können.
Jungen tarnen ihre Magersucht besonders gutGerade bei Jungen sei die Diagnose Magersucht mitunter eine Herausforderung, sagt Georgios Paslakis, Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin in der Ruhr-Universität Bochum. «Man denkt bei ihnen oft nicht daran, weil man typischerweise ein Mädchen vor sich sieht.»
Buben mit Anorexie wollen zwar auch abnehmen und haben ein gestörtes Körperbild. Im Gegensatz zu Mädchen möchten sie aber nicht klassisch dünn sein, sondern streben einen schlanken und kräftigen Körper an mit breiten Schultern, muskulösen Oberarmen und schmaler Taille. Auch das erschwert die Früherkennung.
Während Mädchen die Nahrungsaufnahme stark einschränken, absichtlich Erbrechen auslösen oder Abführmittel einnehmen, um ihre «Traumfigur» zu erreichen, versuchen dies Jungs oft auf anderem Wege: durch Sportbesessenheit und exzessives Training.
Warnzeichen für Eltern können sein, wenn der Sohn extrem viel Zeit im Fitnessstudio verbringt und streng auf Muskelzuwachs und Fettabbau ausgerichtete Diätpläne einhält. Viele erfassen penibel, was, wann und wie viel sie essen, und schlucken Proteinpräparate, um noch kräftiger zu werden.
Probleme und Auffälligkeiten direkt ansprechenWas tun, wenn Eltern das Gefühl haben, dass mit dem Essverhalten des eigenen Kindes etwas nicht stimmt? «Sprechen Sie am besten Ihre Tochter oder Ihren Sohn direkt auf solche Sachen an», rät die Kinderpsychiaterin Naab. «Fragen Sie: Wie geht es dir, was macht dir Kummer oder Angst, und was versprichst du dir von einer Gewichtsabnahme?»
Blockiere das Kind, solle man hartnäckig bleiben und beispielsweise sagen: «Ich mache mir Sorgen um dich und möchte, dass du Hilfe bekommst. Deshalb vereinbare ich jetzt einen Termin beim Kinderarzt.» Konfrontation und hartnäckiges Nachfragen empfiehlt sie auch als geeignete Strategien, um mit den fragwürdigen Ausreden und Entschuldigungen von Magersüchtigen umzugehen.
Als Arne Bredemeyer mit 19 Jahren nur noch 40 Kilogramm wog bei 1,83 Metern Körpergrösse, sagte ein Arzt zu ihm: «Wenn du so weitermachst, bist du bald tot.» Es folgten drei Jahre mit mehreren wochenlangen Klinikaufenthalten, teilweise musste er mit lebensbedrohlichem Untergewicht eingewiesen werden. Seine Geschichte hat ein gutes Ende genommen. Mit 24 Jahren schaffte er es, die Krankheit zu überwinden. Inzwischen ist er ein normalgewichtiger junger Mann, der in einer Beratungsfirma in Deutschland Karriere macht.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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