«Erwarten Sie nicht, dass wir einen Windpark bauen»: Die letzte Ölraffinerie der Schweiz sucht den Weg in die grüne Zukunft

Die Schweiz importiert fast alles an Benzin und Diesel. Nur die Raffinerie Cressier ist noch in Betrieb. Ihr grösstes Problem ist es, wettbewerbsfähig bleiben.
Michael Buholzer / Reuters
Gross, klein, dick, dünn, lang, kurz, hell blitzend, bereits verblasst oder schon bräunlich angelaufen: Nirgendwo hierzulande gibt es eine grössere Vielfalt von Röhren als in Cressier, wenige Fahrminuten von Neuenburg. In dem Geflecht der insgesamt 1500 Kilometer langen Leitungen, Tanks, Türme und Zylinder werden Treibstoffe und Heizöle hergestellt. Es ist die einzige Erdölraffinerie der Schweiz.
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Das Röhrengewirr und die Anlagen erstrecken sich über eine Fläche von 100 Fussballfeldern. Im internationalen Vergleich ist das wenig; in der Schweiz ist es viel. Die letzte verbliebene Raffinerie des Landes wurde im Jahr 1966 errichtet und immer wieder modernisiert. «Manches hier mag alt aussehen. Aber wichtig ist, was drinsteckt. Das hier ist ein entscheidender Teil der Energiesicherheit der Schweiz», sagt Hugues Bourgogne, leitender Manager beim Betreiber Varo Energy.
Die Schweiz ist anfälliger als andere LänderCressier stellt 25 bis 30 Prozent des Schweizer Brennstoffbedarfs her: hauptsächlich Benzin, Diesel und Heizöl, aber auch Schiffsdiesel, Flüssiggas (LPG) und etwas Kerosin. Die übrige Schweizer Nachfrage wird vor allem durch Bahnimporte aus dem Norden oder per Tankschiff über den Rhein gedeckt. Das Rohöl, das Cressier benötigt, kommt durch eine Pipeline aus Marseille.
Weil die Schweiz so viel importieren müsse, sei die Versorgung mit Brennstoffen anfällig, heisst es bei einem Rundgang für Journalisten. Einmal kommt es zu Staus auf dem deutschen Schienennetz, einmal führt der Rhein zu viel oder zu wenig Wasser. Hingegen können laut Varo Österreich, Frankreich oder Grossbritannien 80 Prozent ihres nationalen Bedarfs durch heimische Raffineriekapazität decken.
Dies gilt erst recht, seit die Walliser Raffinerie Collombey im Jahr 2015 geschlossen wurde. Doch es gab zu viele Raffinerien in Europa, und die kleinen waren nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben. In dieser Branche sind die Margen dünn, Gewinne entstehen durch die Masse der produzierten Treibstoffe.
Der rentable Betrieb ist auch heute eine Herausforderung für Cressier. «Wir müssen kämpfen, um wettbewerbsfähig zu bleiben», sagt der Varo-Manager Bourgogne. Raffinerien im Ausland verteilen ihre Fixkosten auf grössere Produktionsmengen. Oder sie haben einen leichteren Zugang zum Meer und können das Rohöl einfacher importieren oder ihre Produkte besser exportieren. Hingegen wird fast alles, was die 280 Mitarbeiter in Cressier produzieren, in der Schweiz verbraucht.
Kein Rückzug aus fossilen BrennstoffeTrotzdem könnte das mehr sein. Heute werden in Cressier auch Biobenzin (Bioethanol, E5) und Biodiesel (B7) hergestellt – besser gesagt, gemischt: Der aus Biomasse produzierte Anteil am Kraftstoff wird importiert und mit dem vor Ort aus Öl gewonnenen Benzin und Diesel vermengt. Doch bald will die Raffinerie selbst Biomasse verarbeiten.
Laurent Gilliéron / Keystone
Biokraftstoffe spielen eine grosse Rolle für die Ziele von Varo. Der Konzern mit Sitz in Baar möchte einer der führenden Treibstoffanbieter in Europa werden. Und zwar mit «zwei Motoren», wie Varo-CEO Dev Sanyal es nennt – sowohl mit alten wie auch mit neuen Kraftstoffen: «Die Welt wird weiterhin konventionell erzeugte Energien brauchen», sagt er im Gespräch. «Der einzige Brennstoff, dessen Produktion im vergangenen Jahrhundert gesunken ist, ist Walöl.»
Schon nächstes Jahr soll nur noch die eine Hälfte von Varos Betriebsgewinn aus konventionellen Treibstoffen stammen, die andere Hälfte bereits aus alternativen Quellen, darunter Bioethanol, Biodiesel oder auch nachhaltiger Flugzeugtreibstoff (SAF). «Ob wir dieses Gewinnziel genau treffen, hängt von den Marktpreisen ab. Aber wir wollen die Kapazitäten haben, diese Balance zu erreichen», sagt Sanyal.
Der konventionelle und der alternative Geschäftsbereich sollen sich gegenseitig stützen. Wenn der eine Sektor schlechter läuft, kann der andere ausgleichen – hofft zumindest Sanyal. Für diese Neuausrichtung hat der seit Anfang 2022 amtierende CEO rund 3,5 Milliarden Dollar an Investitionen eingeplant. Er muss wissen, was er tut: Mit über 30 Jahren Erfahrung in der Energiebranche ist Sanyal ein Veteran. Mehr als eine Dekade verbrachte der gebürtige Inder in der Leitung des britischen Erdöl- und Erdgasriesen BP.
BP ist ein abschreckendes BeispielBei BP hat Sanyal einen kontroversen Strategiewechsel miterlebt: BP verschrieb sich im Jahr 2020 komplett der Energiewende. Geplant war, die Produktion von Erdöl und Erdgas bis 2030 um 40 Prozent zu senken und stattdessen massiv in die Erzeugung von Strom aus regenerativen Quellen zu investieren. Doch als die Öl- und Gaspreise wegen des Ukraine-Kriegs in die Höhe schossen und die Erträge aus dem grünen Neugeschäft lahmten, rebellierten die Aktionäre. BP musste die Strategie kippen.
Bei Varo will Sanyal nichts überstürzen: «Wir bewegen uns nicht schneller als unsere Kunden oder die Gesellschaft. Erwarten Sie nicht, dass wir einen Windpark bauen», sagt er. Zwar ist auf dem Gelände in Cressier eine Solaranlage entstanden, die bis zu 60 Prozent des Strombedarfs der Raffinerie deckt – aber erstellt wurde sie vom Stromversorger Groupe E.
Laurent Gilliéron / Keystone
Doch vieles hat Varo nicht selbst in der Hand: Die Politik redet bei der grünen Expansion immer mit – und ist ein unsicherer Faktor. Zum Beispiel, wenn es um die geplante Produktion von Biokraftstoffen in Cressier geht. Theoretisch könnte die Verwertung von pflanzlichen Abfällen und Reststoffen, zum Beispiel gebrauchtem Speiseöl, im Jahr 2027 beginnen. Aber so schnell wird es nicht gehen.
Cressier fehlen Bewilligungen, darunter zum Import der Biomasse und zur Verarbeitung auf dem Gelände. Ausserdem wünscht sich Varo Sicherheit über die anhaltende Befreiung der Biokraftstoffe von der Mineralölsteuer. Denn anders als in der EU ist die Beimischung von aus Biomasse gewonnenem Kraftstoff zu den konventionellen Treibstoffen in der Schweiz nicht gesetzlich vorgeschrieben.
Für die Ölkonzerne und Tankstellenbetreiber gibt es nur einen finanziellen Anreiz: die Befreiung von der Mineralölsteuer und den Beitrag der Biotreibstoffe zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen. Die Branche muss die Emissionen ihrer Produkte nämlich kompensieren. Aber diese Anreize wirken nicht so stark wie eine vorgeschriebene Beimischung.
Die Steuerbefreiung ist nicht garantiertDer Anteil von Biokraftstoff im Schweizer Strassentransport war 2023 mit rund 3,3 Prozent nur etwa halb so gross wie im EU-Durchschnitt. Die Produktion koste die Hersteller normalerweise zwischen 50 und 200 Prozent mehr als bei fossilen Kraftstoffen, sagt Evangelos Panos, Energieökonom am Paul-Scherrer-Institut: «Mit der gegenwärtigen Gesetzgebung sind Biotreibstoffe in der Schweiz nur mit politischer Unterstützung profitabel.»
Doch die Steuerbefreiung ist nur bis Ende 2030 garantiert. Wahrscheinlich würden die Anreize danach schrittweise zurückgefahren, prognostiziert Panos – denn andere Wege würden erfolgversprechender scheinen: «Der Fokus der Gesetzgebung bleibt auf Elektrifizierung und Effizienz.» Das Potenzial für heimische Biotreibstoffe sei limitiert, unter anderem, weil die hiesige Biomasse begrenzt sei und meist zur Produktion von Biogas eingesetzt werde.
Die Fahrt durch die Energiewende bleibt auch für Varo eine Fahrt auf Sicht.
nzz.ch