Die Brics sind nur noch ein Schatten ihres Mythos


Der Westen steigt ab, der globale Süden steigt auf: Das war für viele Jahre das dominante Narrativ, und die Brics spielten eine Schlüsselrolle darin. Die 2009 von Russland, China, Indien und Brasilien gegründete Organisation, 2010 um Südafrika erweitert, wurde als Vorbote einer neuen Weltordnung angesehen.
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Das reflektierte nicht bloss die Anerkennung der Tatsache, dass sich ökonomische Gewichte verlagerten und dass der Westen nicht mehr die einst dominante Stellung einnahm. Verbunden damit war auch der heimliche Triumph einer einflussreichen Strömung der Selbstkritik des Westens, die westliche – insbesondere die amerikanische – «Arroganz» beklagte und darauf setzte, dass mit dem Aufstieg des globalen Südens auch der Aufstieg einer neuen, besseren, faireren Ordnung verbunden sei.
Von diesem Narrativ der progressiven Emanzipation ist heute kaum etwas übriggeblieben. Deutlich geworden ist, dass vor allem ein Land wirtschaftlich aufgestiegen ist, nicht der globale Süden als Ganzes: das mit harter Hand regierte China, das die Organisation der Brics in den letzten Jahren zunehmend dominierte. Und deutlich wurde auch, dass die neue Ordnung, welche die Brics-Führungsmächte im Sinn haben, keineswegs fairer ist.
Furcht vor antiwestlichem BlockWie sich diese neue Ordnung nach russischer Vorstellung gestaltet, lässt sich in den militärisch eroberten und besetzten Gebieten in der Ukraine studieren. China unterstützt diesen Eroberungskrieg mit diplomatischen, wirtschaftlichen und technologischen Mitteln. Und ob ein erobertes Taiwan besser behandelt würde als der ukrainische Donbass, ist fraglich.
Mehr noch: Beide Mächte sehen die Welt in absolut machtpolitischen Begriffen – Motto: Die Starken machen, was sie wollen, und das ist gut so. Kleinere und mittlere Staaten sind Beute und Objekte der Manipulation. Souverän sind nur die Grossmächte.
Die Vorstellung von einem zu begrüssenden schrittweisen Machttransfer an die Brics ist angesichts dieser Entwicklungen heute nicht mehr populär. An ihre Stelle ist die Furcht vor einem antiwestlichen Block unter Führung der grossen eurasischen Autokratien China und Russland getreten. Der westliche Brics-Diskurs ist von der romantischen in die dramatische Phase getreten.
Keine gemeinsame geopolitische AgendaDoch auch diese Angst ist vor allem Projektion. Schaut man genauer hin, sind die Brics alles andere als ein kohärenter, handlungsfähiger Block. Auch wenn sich Russland und China stets sorgsam hinter den Kulissen einigen, weil sie das gemeinsame Interesse verfolgen, mit den Brics eine Art antiamerikanische Einflusssphäre aufzubauen, sind die meisten Mitglieder mit dieser Agenda nicht oder nur sehr begrenzt einverstanden.
Nicht einverstanden ist Indien, neben Japan der zweite grosse Gegenpol zu China in Asien. Indien verbindet sich immer enger mit den USA (auch wenn es gegenwärtig etwas knirscht). Dass Indien überhaupt Teil der Brics ist, liegt daran, dass es mit am Tisch sitzen will und muss, wenn China und Russland regionalpolitisch agieren. Der Zusammenschluss Chinas, Russlands und Pakistans ist der sicherheitspolitische Albtraum Indiens.
Brasilien und Südafrika sind nur teilweise einverstanden mit der antiamerikanischen Agenda Pekings und Moskaus. Beide sind zugleich sorgsam darauf bedacht, gute Beziehungen zu Washington zu pflegen, aus wirtschaftlichen wie politischen Gründen; sie sind integrale Bestandteile des amerikanisch geprägten und geführten Weltsystems, auch wenn sie immer wieder Unmut äussern.
Mit Saudiarabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten sind kürzlich drei Länder in die Brics aufgenommen worden, die zudem intensive, für sie existenziell wichtige Sicherheitsbeziehungen zu den USA unterhalten. Saudiarabien ist zudem einer der Hauptrivalen Irans im Nahen und im Mittleren Osten. Das Regime in Teheran ist ebenfalls ein Neumitglied der Brics.
Iran als Partner Russlands und ChinasTatsächlich teilt nur Iran die antiamerikanische Agenda Pekings und Moskaus. Wie Russland und China verfolgt auch Iran das Projekt, Amerika aus seiner Nachbarschaft hinauszudrängen und sich in einer «postamerikanischen Welt» selbst zum Hegemonen aufzuschwingen. Im Fall Irans muss man wahrscheinlich die Vergangenheitsform verwenden: verfolgte.
China bemüht sich um Iran, 2021 unterzeichneten Peking und Teheran eine umfassende Partnerschaft, im Januar 2024 trat Iran den Brics bei. Doch Iran, das zu einem dritten Pfeiler einer antiamerikanischen Achse aus revisionistischen Mächten zu werden schien, ist heute machtpolitisch erheblich geschwächt – aufgrund der von Israel durchgeführten systematischen Entmachtung ist es sowohl regionalpolitisch wie auch militärisch nur noch ein Schatten seiner vormaligen Grösse. Weder Russland, das iranische Drohnen in Lizenz baut, noch China, das fast das gesamte iranische Öl (trotz Sanktionen) aufkauft, kamen Iran in dieser Auseinandersetzung zu Hilfe.
Die Erweiterung der Brics, die vor allem Peking vorantreibt, erweist sich zudem als Bumerang. Statt sich China zu unterwerfen, artikulieren die Neumitglieder – ebenso wie die Altmitglieder – unterschiedliche Positionen. Beim Aussenministertreffen der Brics Ende April gelang es nicht einmal, sich auf ein gemeinsames Communiqué zu einigen.
China wollte eine harte Verurteilung der amerikanischen Handelspolitik, die anderen widersetzten sich. Am Ende blieb dem diesjährigen Vorsitzenden, Brasilien, nur, ein Statement zu verkünden, das ein multilaterales Handelssystem forderte – ohne aber die USA zu nennen.
Brics ohne TaktgeberUnd jetzt auch noch das: Weder Putin noch Xi kommen zum Brics-Gipfel am Sonntag in Rio de Janeiro.
Ein Sprecher Putins erklärte, der Präsident komme nicht wegen «gewisser Schwierigkeiten» im Zusammenhang mit dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Putin. Die brasilianische Regierung konnte «keine klare Position einnehmen, die es unserem Präsidenten erlauben würde, an diesem Treffen teilzunehmen», wie der Sprecher sagte.
Brasilien wäre als ICC-Mitglied verpflichtet, Putin festzunehmen, dem unter anderem die Deportation ukrainischer Kinder aus den besetzten Gebieten vorgeworfen wird.
Bereits 2023 blieb Putin dem Brics-Gipfel in Südafrika fern, weil auch Johannesburg ihm nicht fest zusichern wollte, dass er nicht verhaftet würde. 2024 löste sich das Problem von selbst, da der Brics-Gipfel im russischen Kasan stattfand.
Für Russland ein Schlag ins Kontor: Zwei Brics-Altmitglieder sehen die Verpflichtung gegenüber dem einst als Vorgriff auf eine effektive Weltrechtsordnung begründeten ICC als wichtiger an als ihre machtpolitische Loyalität gegenüber dem Partner Moskau.
Gipfel der AbwesenheitenUnd nun auch noch die Absage von Xi, dem heimlichen Regenten der Brics. Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt 2013 nimmt der chinesische Präsident nicht an einem Brics-Gipfel teil. Stattdessen kommt Ministerpräsident Li Qiang.
Offiziell begründet wird dies mit einem Terminkonflikt. Brasilianische und indische Medien spekulieren, dass Xi verschnupft sei, weil der indische Premierminister Modi einen grossen Empfang in Brasilien erhalte, inklusive Staatsdinner.
Der Gipfel in Rio de Janeiro dürfte damit vor allem durch die grossen Abwesenheiten in Erinnerung bleiben.
Brasilien hat dieses Jahr den rotierenden Vorsitz, und damit darf Präsident Lula die Agenda bestimmen. Doch wichtiger als der Vollzug des offiziellen Programms ist bei den Brics üblicherweise die Dynamik, die von Peking und Moskau ausgeht, denn sie sind die Taktgeber der Organisation. In Rio de Janeiro wird sich eine Reihe von Mittelmächten treffen, die im Grunde wenig gemeinsam haben.
Mit dem Status einer organisierten Gegenmacht zur Weltmacht USA haben die Brics damit immer weniger zu tun. Immer deutlicher entwickelt sich die Organisation zum Sammelsurium sehr diverser Vorstellungen und Interessen, eine Entwicklung, die durch die Erweiterung der Organisation noch deutlich verstärkt wird.
Allein China mit seiner ökonomischen Attraktivität und Macht vermag dem Ganzen noch so etwas wie eine Richtung zu geben – so schien es jedenfalls. Mit der Absage Xis jedoch stellt sich die Frage nach der Existenzberechtigung der fragmentierten Brics deutlicher denn je.
nzz.ch